Foto: Ulrike Fischer, Murat Seven und Ernest Allan Hausmann in "Lauf und bring uns dein nacktes Leben" am Staatstheater Darmstadt © Robert Schittko
Text:Volker Oesterreich, am 30. August 2020
Aus welchem Stück sind diese Figuren denn gefallen? Sie warten so vergeblich auf bessere Wirkungsmöglichkeiten wie die drei Provinz-Pomeranzen in Tschechows „Drei Schwestern“. Und sie verharren in einer so absurden Ausweglosigkeit, als kämen sie geradewegs aus Becketts „Endspiel“. Dabei wollen sie in Westafrika doch unbedingt helfen, diese sechs weißen Idealisten der NGO-Hilfsorganisation „Everyday Ghandi“, von denen Rainer Merkel in seinem Stück „Lauf und bring uns dein nacktes Leben“ erzählt. 2017 wurde es beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens präsentiert, nun steht die Darmstädter Fassung erstmals auf dem Spielplan des dortigen Staatstheaters.
Sechs Helfer sind hier in ihrer Hilflosigkeit gefangen – erst unterwegs zum Einsatzort auf dem Flughafen von Casablanca, dann im Basislager von Sierra Leone. Dort kreisen sie in einer Art Hochsicherheitstrakt eines angemieteten Hotels mehr um sich selbst als um die Nöte des Landes, das gerade einen bestialischen Bürgerkrieg überstanden hat und nun vom Ebola-Virus bedroht wird. Die Helfer stecken trotz ihres forcierten Gutmenschentums noch tief im postkolonialen Denken und in der Erbärmlichkeit ihrer eigenen Psyche. Das verdrängen sie, aber die Zuschauer erkennen es schon nach wenigen Szenen in David Stöhrs Inszenierung in den Kammerspielen und im Foyer des Staatstheaters Darmstadt.
Der 1964 geborene Autor hat vor mehr als zehn Jahren selbst Erfahrungen gesammelt in einer Nicht-Regierungsorganisation. Damals arbeitete er im Auftrag von Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Aber er schrieb keine dokumentarische Selbstbespiegelung über diese Zeit, sondern eine kafkaeske Suchbewegung in den Köpfen seiner Figuren. Die Not der verstümmelten Kindersoldaten und die beginnende Pandemie bilden eine Drohkulisse. Von draußen klingt nur einmal der vielstimmige Sound der Straße in die abgeschottete Hotelanlage, während sie drinnen gefangen sind in ihren mitgebrachten sexuellen Frustrationen und in ihrem Idealismus, der sich trotzdem nicht vom Herrenmenschen-Denken befreien kann, wenn mit europäischer Überheblichkeit über die kaputte Pool-Beleuchtung oder den schlecht schmeckenden Kaffee gelästert wird. Diese mentale Haltung spiegelt sich im kargen Sperrholz-Ambiente der Bühnen- und Kostümbildnerin Sarah Sassen. Triste Möblierung für triste Menschen.
Nach und nach scheint sich das Ebola-Virus dieser sechs Helfer zu bemächtigen. Davon künden Krämpfe bei dem einen, Fieber-Fantasien bei dem anderen. Und wenn am Ende – wieder auf dem Flughafen von Casablanca – Blut läuft aus dem Mund des NGO-Chefs, nachdem er eine Stewardess sexistisch angebaggert hat, dann steht dieses Symbol wohl auch dafür, dass sich das Virus nun weiter ausbreiten wird in der Welt.
Angesichts der Covid-Pandemie könnte der zweistündige Abend wie ein prophetisches Menetekel wirken. Aber ganz so ist es nicht. Der Vergeblichkeitsfuror der Figuren droht so zu versickern wie Wassertropfen im Wüstensand. Andererseits ist die weltweite Gefährdung im Foyer und in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt sehr präsent. Per Live-Video werden die Szenen in den Saal übertragen, die draußen im Foyer gespielt werden – und umgekehrt. Dabei assoziieren die Zuschauer womöglich ihren Berufsalltag mit Videokonferenzen im Homeoffice. Doch zu viel bleibt an der Oberfläche. Das Virus der inszenatorischen Tristesse und des sprachlichen Smalltalk-Geplänkels ist zu stark. Dennoch: Es wird wieder gespielt! Live vor Publikum mit einem ausgeklügelten Sicherheitskonzept! David Stöhr geht dafür geschickt Kompromisse ein und wird wie die sechs Ensemblemitglieder Ernest Allan Hausmann, Gabriele Drechsel, Ulrike Fischer, Thorsten Loeb, Murat Seven und Mathias Znidarec deshalb vom Premierenpublikum zu Recht gefeiert.