Foto: Uraufführung von Dörte Hansens „Mittagsstunde“ am Hamburger Thalia Theater © Armin Smailovic
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 13. Juni 2021
Wer der platten norddeutschen Landschaft samt passender Sprache bislang wenig abgewinnen konnte, mag sie spätestens seit Dörte Hansens Romanen. Auf ihr „Altes Land“ folgte 2018 der Bestseller „Mittagsstunde“. Darin erzählt sie die Geschichte des fiktiven Dorfes Brinkebüll und seiner schrulligen Bewohner über mehrere Jahrzehnte: witzig, tiefgründig – als Insiderin halt. Mit Sätzen wie „Man hat nicht viel zu melden als Mensch“, beschreibt sie das Lebensgefühl dieser von Wetter und Natur dominierten Existenz, aber ebenso das gewachsene Gemeinschaftsgefühl inmitten von Feldern und Waldtieren, im überschaubaren Radius zwischen familienbetriebenen Höfen und Dorfkneipe. Hier scheint alles einen Platz zu haben, der schiefe Trampelpfad genauso wie die verrückte Marret.
In diesen ländlichen Kosmos fielen (nicht nur in Norddeutschland) in den 1960er Jahren Vermessungsingenieure ein und betrieben sogenannte Flurbereinigung. Über die Dorftrottel machten sie sich lustig, und als sie wieder abreisten, hinterließen sie ein geschundenes Land – und die schwangere Marret. Hier beginnt der eine Strang der Geschichte, der von Marrets Welt als Sängerin der Dorfband in der elterlichen Kneipe erzählt; der andere verfolgt den Werdegang ihres ungewollten Sohnes Ingwer Feddersen.
Der kehrt nach vielen Großstadt-Jahren zurück in sein Heimatdorf – verloren und unsicher breitet er gleich zu Beginn seine Vergangenheit vor dem Publikum aus: Traumatisiert sei er von Schlagermusik – seine Mutter Marret stellte jeden Abend einen Kassettenrekorder neben sein Bett, wo ihm Roland Kaiser und Konsorten den Schlaf raubten. „Ich habe die Lieder nicht unter Kontrolle“, gesteht er und gibt zur Gitarre einen gesungenen, urkomischen Eindruck von dieser Art des musikalischen Verfolgt-Seins. Im weiteren Verlauf des zweieinhalbstündigen Abends setzt sich sein Leben in Rückblenden zusammen, aus seiner Kindheit mit der als Sonderling geltenden Mutter und den Großeltern, die ihn stattdessen aufzogen, aus seiner Schulzeit und der sich langsam entwickelnden Abgrenzung vom engen Dorfleben. Als junger Mann floh er zum Studium in die Universitätsstadt und lebte in einer Dreier-WG den Protest gegen das spießige Ehe-und-Haus-Vorbild seiner Heimat, nahm zur Musik von Neil Young Zuflucht als größtmöglichem Gegensatz zur verhassten Einschlafmusik. Doch beides fühlt sich nicht richtig an, seinen Stallgeruch wird er nicht los.
Die Uraufführung der „Mittagsstunde“ vertraute das Thalia Theater der Regisseurin Anna-Sophie Mahler an. Aus der Romanvorlage erstellte sie in enger Abstimmung mit der Autorin eine Bühnenfassung und reduzierte die über 300 Seiten radikal. Dörte Hansen persönlich übersetzte die Plattdeutschen Textpassagen ins Hochdeutsche.
Neben Thomas Niehaus als Feddersen beeindruckt Cathérine Seifert mit einer überragenden Darstellung der Marret. Deren Schlichtheit wirkt liebenswert und niemals ausgestellt. Ihre überschaubare Welt liefern die Schlagertexte, die sie hingebungsvoll – und niemals peinlich – mit kindlich wippenden Füßen vorträgt. Die vierköpfige Band begleitet sämtliche Songs live und spielt Marschmusik und Pop ebenso stilsicher wie Freddy Quinn und Country – die Dorfbewohner bewegen sich geradezu entfesselt im Line-Dance zu „Achy Breaky Heart“.
Planquadratrige Projektionen über dem gesamten Bühnenraum von Kathrin Connan – als Momente der Bedrohung – und der wiederholte Aufmarsch behelmter Ingenieure kommen indes zu gewollt daher. Doch die großartige Inszenierung schafft eine gelungene Balance zwischen Schauspiel und Musiktheater und hat das Zeug zum neuen Kultstück.
Nach lang anhaltendem Applaus schwenkte eine lächelnde Dörte Hansen ihre Premieren-Blume vor dem begeisterten Publikum – so unprätentiös wie ihre Protagonisten.