Foto: Iwanow (Benjamin Grüter) und Arzt (Felix Strobel) auf der weiten Filmbühne © Thomas Aurin
Text:Detlev Baur, am 18. November 2019
Kein Samowar, keine heruntergekommenen Großbauern, keine russische Folklore. Dafür klingelt mal ein Handy, Brit-Pop untermalt dramatische Zuspitzungen, Iwanow heißt Nikolas Hoffmann, die Kostüme (Wojciech Dziedzic) des auf neun Protagonisten konzentrierten Ensembles könnten ausnahmslos aus mitteleuropäischer Gegenwart stammen; der Schauplatz ist eine große Terrassenplattform, die durch zwei seitliche Stege inmitten eines flachen Wasserbassins erreichbar ist und sich immer wieder langsam dreht (Bühne: Hildegard Bechtler).
Hier sitzt die Titelfigur, gespielt von Benjamin Grüter, zu Beginn auf einer, genau besehen sargähnlichen, Bank und leidet still vor sich hin. Im Scherz wird er zu Beginn vom virilen Michael (Peer Oscar Musinowski) mit einer Pistole bedroht. Die Terrasse verwandelt sich im zweiten Akt mit Luftballons, Teppichen und zahlreichen Statisten in eine laute Party bei Nikolas‘ Freund Peter. Am Rande stiefelt Nikolas-Iwanow durchs knöcheltiefe Wasser, sitzt am Beckenrand, wenn die Gesellschaft über ihn und seine unglückliche Frau herzieht, und er trifft hier auf die dynamische, junge Sascha (Nina Siewert), die nicht nur wegen ihres knallroten Kleids eine andere Temperatur ins Spiel bringt.
Die Wände sind also offen auf der weiten Bühne. Die Gespräche sind gekonnt präsentiert, die Seelen bleiben aber verschlossen. Robert Ickes Textfassung aktualisiert die Sprache, greift aber strukturell kaum in die Gespräche oder die Formung der Figuren ein. Britisches Konversationsstück trifft bei dieser Inszenierung am Schauspiel Stuttgart somit Tschechows bittere Komödie. Das Problem ist, dass diese frühe „Komödie“ Tschechows weniger in die Tiefe (und Breite) geht als die späteren Klassiker, die Handlungsebene wirkt hier noch dominanter als die selbst-entlarvenden Gespräche. Das Geschehen bleibt also an der Oberfläche – oder im seichten Wasser; die Heimat des Dramas bleibt vage.
Benjamin Grüter spielt einen kontrolliert wirkenden Mann, dessen Abdriften in eine depressiv aufgeladene Midlife-Krise erst aufscheint, wenn er mitten im Gespräch in ein Schluchzen ausbricht. Die Schwäche der Titelfigur ist nicht aufdringlich, und darum nur bedingt erkennbar. „Ich bin ein Witz“ bleibt eine Behauptung. Ähnlich kontrolliert, als Figur aber spannender, wirkt seine Ehefrau Anna; Paula Skorupa spielt kein leidendes Hascherl, sondern eine an sich selbstbewusste Frau, die in einer ausweglosen Lage ist. Die jüdische Religion und damit den Kontakt zu den Eltern hat sie für ihren Mann aufgegeben, doch der begegnet ihr mit Apathie und Desinteresse. Später ist sie eine von der Krankheit todgeweihte Krebspatientin, womit die Verantwortung des Gatten in dieser Version gegenüber dem Originaltext deutlich gemindert wäre. Die beiden jungen Frauen sind im Stuttgarter „Iwanow“ jedenfalls die stärksten Gestalten. Am Ende nach Annas Tod, bei der scheiternden Hochzeit zwischen Niklas-Iwanow und Sascha, schlägt die Braut den moralisierenden Doktor, ein wunderbar sich windender Felix Strobel, nieder. Auch der schlaffe Onkel (Klaus Rodewald) und Freund Peter (Michael Stiller) sind, überzeugend gespielte, Männer ohne Mumm, Peter ist nur der leidende Bote seiner geizigen Frau (Mariette Meguid), die allerdings kaum Raum für ihre Figur bekommt.
Zwischen den Akten blickt Nikolaus-Iwanow nach oben in eine Kamera, das Filmbild wird auf die große Rückwand am Ende der Bühne übertragen. Von hier aus ist die Bank als Sarg erkennbar, hier erschießt er sich, als er im Hochzeitstrubel keinen anderen Ausweg mehr weiß, ohne Zögern. Und dann erhebt sich der gefallene Mann und stapft durchs Wasser von der Bühne, verlässt den Raum durchs Parkett. Die auf der Bühne zurückgebliebenen trauern weiter um den auf der Leinwand noch liegenden Iwanow. Ist er also doch ein Hochstapler oder war das ganze Spiel nur ein Alptraum? Die Inszenierung lässt viele Fragen offen, tut dies gekonnt, bleibt somit aber auch ein recht unverbindliches Drama.