Sentas Fixierung auf das Porträt und den Mann, den es zeigt, hat geradezu etwas Schicksalhaftes – man könnte meinen, dieser Bürgerstochter sei ein Liebestrank verabreicht worden. Diese Parallele aber ist fast noch erstaunlicher als das Treue-Ideal: Senta verschreibt sich einer Liebe, die einerseits schicksalhaft und unausweichlich, andererseits aber gesellschaftlich vollkommen inakzeptabel ist – wie die von Tristan und Isolde. Im „Holländer“ steckt bereits der Keim einer geradezu revolutionären Weltverneinung im Namen der Liebe von metaphysischer Tragweite, der Wagner dann in „Tristan und Isolde“ eine künstlerisch weit radikalere Gestalt geben wird.
Das schimmernde Meer aus Nylon
Es ist die große Stärke von Michael Thalheimers neuer „Holländer“-Inszenierung an der Staatsoper Hamburg, dass sie diese Radikalität vom ersten Moment an kenntlich macht. Thalheimers kongenialer Bühnenbildner Olaf Altmann hat sich offenbar von der Allgegenwart des aufgewühlten Meeres in der „Holländer“-Musik inspirieren lassen: Über 900 hochelastische, senkrecht aufgespannte, schimmernde Nylonfäden verwandeln die Bühne in einen filigran irisierenden, von Stefan Bolliger wunderbar ausgeleuchteten Meeresraum. Gleich zu Anfang wird inmitten all der Flimmerlinien ein schwarzer, unförmiger Plastiksack erkennbar, aus dem sich ein Mensch herausschält wie bei einer Geburt; aber nicht etwa der Holländer, sondern Senta. Auch sie ist eine Meergeborene, der wilden See verfallen wie der Holländer, den die Kostümbildnerin Michaela Barth als schwarze Nachtgestalt mit Wallebart, Wehemähne und nackten Armen ausstaffiert hat. Und so sind beide von Anfang an füreinander bestimmt.
Vor dieser Konstellation im hochabstrakten, metaphorischen Raum wird die Handlung weitgehend marginalisiert. Kein Schiff, nirgends, auch keine Spinnstube; und dass Marys Warnungen ebenso wie Eriks Werbungen angesichts der metaphysischen Verbundenheit der beiden Meermenschen von vornherein chancenlos und damit auch dramaturgisch bedeutungslos bleiben müssen, ist von der Ouvertüre an klar – was nicht unbedingt zur Spannung des Handlungsablaufs beiträgt. In einigen Details aber macht Thalheimer dann doch Dalands Goldgier und den Anpassungsdruck der bürgerlichen Sphäre deutlich: Daland erliegt dem Zauber des Goldkonfettis, das der Holländer über ihn wirft, Senta leidet unter der aggressiven Zudringlichkeit der Spinnerinnen. Und der schwarze Plastiksack wird zum Symbol des Todes: Die Mannschaft des Holländers führt solche Säcke raschelnd mit sich, und am Ende erstickt sich Senta mit so einem schwarzen Plastikteil. Sie kehrt quasi dorthin zurück, wo sie hergekommen ist – eine Regression.
Ein Nachtstück, quälend langsam
Damit wird der Geschichte des Holländers alles Pittoreske und Plauschige genommen – sie wird zur düsteren, lakonischen Phantasmagorie. Und das Tolle an diesem Abend ist, dass Kent Nagano, der GMD der Staatsoper, mit seinem Dirigat ähnlich eigenwillig auf die metaphorische Finsternis der Inszenierung antwortet. Ich erinnere mich nicht, jemals einen so langsamen „Holländer“ gehört zu haben. Man könnte durchaus fragen, ob Nagano nicht an manchen Stellen die Grenzen der interpretatorischen Freiheit überstrapaziert. Aber das unterläuft ihm natürlich nicht aus Versehen – es ist gestalterische Absicht. Nagano treibt dem „Holländer“ alle konventionelle Wunschkonzert-Verbindlichkeit aus und macht ihn zu einem konsequent quälenden, stockfinsteren Nachtstück mit abgrundtief klaffenden Generalpausen, Ritardandi bis zur Grenze der Erstarrung und Ausbrüchen von wuchtiger Schwere. Die so quasi hinzugewonnene Zeit nutzt er auch zur Gestaltung einer enorm vielschichtig ausbalancierten, minutiös ausformulierten Klangphysiognomie. Dadurch behält die Langsamkeit ihre Spannung – wenn man sich als Hörer darauf einlässt und die Gelegenheiten nutzt, in die Musik hinein zu lauschen.
Das vokale Niveau ist hoch, auch wenn man gelegentlich merkt, wie schwer es den Sängern fällt, unter diesen erschwerten Bedingungen ihre musikalischen Bögen zu halten. Thomas Johannes Mayer ist ein stimmdarstellerisch starker Holländer in tiefschwarzem Timbre und von charakteristischer Sprödheit, manchmal würde man sich vielleicht etwas mehr sonore Stabilität wünschen. Jennifer Holloway begegnet ihm als Senta auf Augenhöhe mit klarem Timbre und energetischer dramatischer Intensität, die Piano-Linien allerdings geraten ihr zitterig tremolierend. Auch wenn Erik hier dramaturgisch keine Chance hat – stimmlich bringt Benjamin Bruns die Figur kraftvoll zur Geltung, mit hellem, klarem Timbre, nur sein Legato bleibt etwas steif. Kwangchul Youn singt einen markanten, vorzüglich artikulierenden Daland, Peter Hoare wirkt als müder Steuermann leider so ausgeschlafen und markig, dass er darüber die liedhaft-lyrischen Züge seiner Partie verfehlt.
Ein besonderes Lob hat sich der vom vielerfahrenen Eberhard Friedrich vorzüglich einstudierte Staatsopern-Chor verdient, der seinen Part mit Präsenz und Präzision herüberbringt. Beim Sängerkrieg der Mannschaften zu Anfang des dritten Aktes wurde er verstärkt durch Mitglieder des Herrenchores der Nationaloper in Kiew, was erstens eine schöne Geste der Solidarität mit dieser gequälten Stadt in einem gequälten Land ist und zweitens der Seite der Holländer-Matrosen eine vokale Prägnanz einträgt, wie ich sie kaum je erlebt habe.
Die eigenwillige Lesart dieser „Holländer“-Produktion spaltete das Premierenpublikum: Großer Beifall für alle Sänger auf der Bühne, aber auch heftige Buhs für das Regieteam und für Kent Nagano.