Foto: Szenisches Stillleben aus "Enter Hamlet" © Kai Fischer
Text:Sören Ingwersen, am 30. Mai 2020
Er scheint sich in einer hermetisch abgeschlossenen Blase zu bewegen. Darin kreisen die Gedanken, die Zweifel, der Hass. Die zur Rache anstachelnden Botschaften des ermordeten Vaters kommen von außen, aus einer anderen Sphäre, dem Jenseits, und lösen im Kopf des Protagonisten eine Art Psychose aus. So gesehen liegt es nahe, die Figur von Shakespeares Hamlet in den virtuellen Raum zu katapultieren, wo soziale Distanz, aufwiegelndes Schwadronieren und kognitiver Kontrollverlust zum Nährboden für gesellschaftliche und familiäre Gewalt werden. Mit dem digitalen Familiendrama „Enter Hamlet“ reflektiert das Künstlerkollektiv „Die Azubis“ auf der Streaming-Plattform des Hamburger Lichthof Theaters indirekt auch das Phänomen der Zwangsvereinzelung durch Corona. Die Live-Aufführung findet im Rahmen einer Zoom-Konferenz statt. Rund zwanzig Zuschauer zählt man in den Videokacheln. Eine technische Einweisung soll dafür sorgen, dass die Bild-Ton-Übertragungen aus den Privatwohnungen der Darsteller Kai Fischer, Christopher Weiß und Lisa Apel reibungslos gelingen. Die virtuellen Besucher werden ausgeblendet, das Spiel beginnt.
In den kommenden 70 Minuten gucken wir durchs digitale Schlüsselloch in Küchen und Wohnzimmer. Wir sehen Claudius, den Bruder und Mörder von Hamlets Vater – hier gespielt von Lisa Apel –, als aggressiven Fußballfan vor der Glotze. Sehen Christopher Weiß als Polonius, den Vater von Hamlets geliebter Ophelia, mit nacktem Hintern bei der Suche nach seiner Hose und später auf dem Klo sitzend. Wir sehen Gesichter, die direkt in die Webcam sprechen, oder werden Zeuge, wie die Kamera ohne Wissen ihrer Besitzer Intimstes in den digitalen Äther bläst. Die Darsteller wechseln flugs die Kostüme, während das Kamerabild einen anderen Ort zeigt – etwa die kleine Spielzeuglandschaft, in der Hamlet als Legofigur agiert und den ebenbildlichen Vater betrauert, der auf einem Smartphone liegt und sich per WhatsApp-Nachricht aus dem Jenseits meldet.
Kai Fischer – gelegentlich auch selbst als Hamlet im Bild – ist der Beweger dieses klug eingefädelten Spiels mit Objekten und wird später noch mit den hinreißend einfachen Mitteln des Papiertheaters die Vorgeschichte der Rivalität zwischen Hamlets Vater und dessen Bruder Claudius erzählen. Die ausgeklügelte Live-Schaltungs-Regie fügt dabei die verschiedenen Spielräume, Darstellungstechniken und Bedeutungsebenen geschickt zusammen. Und wenn Hamlet seine Mutter einfach stummschaltet und seinem Onkel eine digitale Comic-Nase wachsen lässt, wird ohren- und augenfällig, wie sehr das Medium die Botschaft formt, verbiegt oder unterdrückt. Eine eingeschobene Zuschauerbefragung rund um unsere Vorurteile über die vermeintlichen Familienerfahrungen der anderen unterstreicht den partizipativen Charakter jener sozialen Medien, in denen mehrheitlich unterstützte Meinungsbilder oft mit der Wahrheit verwechselt werden. Ist die Gewalt womöglich Folge einer grundlegenden Entfremdung von unseren Mitmenschen – auch den engsten Verwandten – durch eine völlig distanzlose Distanzierung im Umgang mit den neuen Medien? Komplizierte Fragen, die Christopher Weiß und Kai Fischer mit ihrem Projekt „Enter Hamlet“ ästhetisch ansprechend und gut zugänglich in den digitalen Raum stellen. Ein sehr geglücktes Experiment, bei dem neben der Erprobung neuer technischer und theatraler Möglichkeiten auch die gute alte Schauspielkunst nicht zu kurz kommt.