Foto: Jochen Rollers "Trachtenbummler" © Moritz Korbel
Text:Barbara Behrendt, am 28. August 2013
Der typische Deutsche trägt Lederhose, sein liebster Freizeitsport ist der Schuhplattler: dass dieses Bild dem Deutschen so wenig nahe kommt wie der Hawaiianerin das der halbnackten Baströckchenträgerin, bedarf keiner Erklärung. Jochen Roller führt in seiner neuen Produktion „Trachtenbummler“ nun aber vor, dass im bayrischen Schuhplattler nicht nur ein deutsches Klischee, sondern auch ein neoafrikanischer Stammestanz stecken kann – alles nur eine Frage von Musik und Haltung. In Kampfpose schlagen sich die fünf Tänzer aus Tonga, Singapur, Sri Lanka, Brasilien, Australien und Frankreich mit Jochen Roller zu elektronischen Trommelschlägen auf die Waden und Fußsohlen, so dass man sich kaum mehr vorstellen kann, wie in Bayern dazu das Akkordeon gespielt wird. Hier schweigt die Ziehharmonika und macht beim geräuschlosen Auf- und Zuziehen nur gespenstische Atemzüge.
Doch nicht nur die bayrische Folklore verfremdet der Berliner Choreograph in seiner Performance, die bei „Tanz im August“ nun uraufgeführt wurde. Acht Trachten und Volkstänze aus deutschem Brauchtum präsentiert Roller in neuem Kontext und wählt dafür immer das gleiche Schema. Auf die dunkle, leere Bühne treten zwei bis drei Tänzer in einer Tracht, die der Modedesigner Daniel Kroh mehr zitiert als original abbildet. Aus einem Bauernschrank, der von innen wundersam leuchtet, greifen sie ein Instrument und interpretieren es neu – das Akkordeon wird zur geisterhaften Atemmaschine, die Fastnachtsrassel zum krächzenden Vogel, das Paarbecken zur meditativen Klangschale, und das Beste: Kuhglocken mutieren zu spanischen Kastagnetten. Dann stellen alle sechs Tänzer Volkstänze aus altdeutschen Landen zu Pop- oder Weltmusik vor. Während Miriam Makeba aus den Boxen „Pata Pata“ singt, hüpfen die Tänzer in fransigen Überwürfen umher, als tanzten sie im Vogelkostüm beim Karneval – sehr erheiternd. Voller Gefühl dagegen die Nummer zu „Somewhere over the Rainbow“ des Hawaiianers Israel Kamakawiwo?ole: In tiefblauen Trachten – die Männer mit Blumenkränzen im Haar – erscheinen die Tänzer wie in einem fahlen Sommernachtstraum.
Der Verfremdungseffekt gelingt am besten, wenn eine Tracht oder ein Tanz bekannt ist – dann erlebt man die deutsche Folklore in neuer, spielerischer und ironischer Perspektive. Aber auch wenn das nur für wenige Nummern gilt und man sich in den meisten Fällen nur wundern kann über die bunten, verrückten Trachten, die es in Deutschland geben soll, so sind doch alle Auftritte des Ensembles jedenfalls höchst unterhaltsam und komisch, mit Anflügen ins Groteske. Deutsche Folklore, leicht ins Exotische verschoben: das ist sicher bestens exporttauglich – und auch für einheimische Brauchtumshasser lustvoll anzusehen.
Jochen Roller, in früheren Inszenierungen mit der Theorie und den Bedingungen des Freien Tanzes beschäftigt, thematisiert auch hier ein Grundsatzproblem: Wie „authentisch“ und wie „exotisch“ müssen Aufführungen sein, um im internationalisierten Festivalbetrieb zu bestehen? Eine Frage, die bei manchem Auftritt des Berliner „Tanz im August“ zu stellen ist, zum Beispiel bei der Eröffnungsproduktion des kongolesischen Choreografen Faustin Linyekula: Wie viel Kongo darf in dieser Arbeit stecken, damit wir Europäer sie für authentisch afrikanisch und zugleich verstehbar europäisch halten?