Foto: Anna Stein (l.) und Larissa Machado im ersten, von Maurice Maeterlincks "Tintagiles Tod" inspiriertem Teil des spartenübergreifenden Projekts "Schließ deine Augen - Rien ne va plus" in Essen © Diana Küster / TUP Essen
Text:Maike Grabow, am 1. April 2019
Wer hat sich nicht schon einmal vorgestellt, wie es wäre, ewig Kind zu bleiben? Man erinnert sich an Peter Pan und die verlorenen Jungen, die ohne Erwachsene und deren Regeln leben. Diese Vorstellung hat sich Sascha Krohn zunutze gemacht, als er im zweiten Teil des Abends „Ohne Ausnahme“ nach Motiven von J.M. Barries „Peter Pan“ und Dennis Cooper inszenierte. Wir sehen eine Bande von Kindern, die ihre Augen schließen und sich eine Insel vorstellen. Eine Insel fernab der Realität, in der sie bestimmen. Hier essen sie giftige Sachen, ohne zu sterben, hier glauben sie, fliegen zu können, hier spielen sie Peters Spiele.
„Schließ deine Augen – Rien ne va plus!“ fordert uns der Titel des Mehrspartenprojektes auf. Es will die Sparten vom Theater und Philharmonie Essen verbinden: Oper, Ballett und Schauspiel. Dies gelingt in nur einer Hälfte der Uraufführung. Im ersten Teil des Abends inszeniert Marijke Malitius eine eigene Fassung von „Tintagiles Tod“ von Maurice Maeterlinck. Sie schafft es, im mystischen Tanz, Gesang und Schauspiel zu verbinden. Der Tanz verdeutlicht die Verbindung zwischen Tintagiles (Larissa Machado) und seinem Schatten (Sena Shirae). Zu Beginn sind beide vereint, spielen miteinander. Das Kind ist einfach ein Kind. Doch durch die Strukturen der Erwachsenen verliert es seine Kindlichkeit. Die Rollen kehren sich um – der Schatten wird zum Kind. Es kann nicht in die Welt hineinwachsen. Symbolisiert durch die vielen Blumentöpfe auf der Bühne, in die die verzweifelte Schwester Ygraine (Anne Stein) versucht, Tintagiles einzupflanzen. Der Helfer Aglovale (Benjamin Hoffmann) unterstützt und kommentiert die verlorene Kindheit mit seinem Gesang. Am Ende ist das Kind ohnmächtig gegen die Strukturen und Regeln der Erwachsenen, es wird von diesen heimgesucht und stirbt, weil es seinem Schicksal nicht entfliehen kann.
Im zweiten Teil hingegen entspringt alles der Fantasie der Kinder, die sich weigern, in diese Erwachsenenwelt hineinzupassen. Sie kämpfen gegen das Erwachsenwerden an, allen voran Peter (Yannik Heckmann). Für sie wird alles zum Spiel, doch Spiel und Realität verschwimmen und letztendlich erkennen alle – außer Peter -, dass man nicht vor dem Leben fliehen kann, die ewige Kindheit nur eine Lüge ist und das Spielen nicht ungefährlich. Zwanghaft wird hier versucht noch ein bisschen Oper hereinzubringen, indem die Stimme von Ric aus dem Off „Boyhood‘s End“ von Michael Tippett singt. Vom Tanz hat man, abgesehen vom kurzen Gruppentanz, schon abgeschworen. Nicht immer lassen sich alle Sparten miteinander vereinbaren.
Es ist mutig, beide Stücke miteinander zu verknüpfen, da sie sowohl formal als auch ästhetisch anders funktionieren. Eine Gemeinsamkeit haben sie in ihrer Struktur als Mythos. „Tintagiles Tod“ ist ein hoffnungsloses und düsteres Märchen. „Peter Pan“ eine lehrhafte und genauso hoffnungslose Kindergeschichte. Vereinigung finden beide Inszenierungen vor allem im Bühnenbild von Gesa Gröning. Sie schafft es, die Stücke durch ein verwunschenes Haus zu verbinden. Pflanzen ranken an ihm hoch, es ist nur der vorderste Rahmen vorhanden, Betten sind Krankenbetten, Essen ist Pflanzendünger und die Pflanzen stecken in viel zu großen Töpfen. Das Bühnenbild symbolisiert die verschwommene Realität. Nur in diesem Märchenbild kann eine Fläche projiziert werden, auf die es möglich ist, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen und nicht das Reale zu verlangen. Die Pflanzen und das Toxische vergegenwärtigen uns, um was es hier geht: Erwachsenwerden ist schwierig, ja geradezu tödlich. Dennoch kann keiner davor fliehen. Und somit ist der Projekttitel ein Antonym: „Öffne deine Augen“ fordert uns die Stückentwicklung in Wahrheit auf.