Foto: Die gealterte Minona (Theodora Varga) rechnet ab mit ihrem Idol Beethoven © Jochen Klenk
Text:Detlef Brandenburg, am 26. Januar 2020
Der Fall ist kompliziert. Mit seiner Oper „Minona“ dockt der 1971 in Tallinn geborene, heute in Frankfurt lebende Komponist Jüri Reinvere an den Boom des Beethovenjahres 2020 an – das aber auf derart verwickelte Weise, dass einem bei der Uraufführung des Werks am für die zeitgenössische Oper höchst engagierten Theater Regensburg ganz schön der Kopf schwirrte. Reinvere, ein erfahrener Opernkomponist, hat mit „Fegefeuer“ (2012, Finnische Nationaloper) und „Peer Gynt“ (2014, Nationaloper Oslo) bereits zwei großkalibrige Brocken aus postromantischer Tradition auf die Bühne gewuchtet. Wenn ihn nun die Figur Minona so sehr faszinierte, dass er ihr sein drittes Bühnenopus widmete, dann mag das auch einen biographischen Hintergrund haben.
Die Biographie dieser Minona nämlich, geboren 1813 in Wien als Tochter von Josephine und Christoph von Stackelberg, führt auch nach Reval, dem heutigen Tallinn, Reinveres Geburtsstadt. Hier fand er im Stadtarchiv sogar Dokumente zum Leben des Barons von Stackelberg und seiner beiden Töchter Marie und Minona, deren Sorgerecht er nach der Trennung von Josephine erstritten hatte. Offenbar hat er die beiden im Sinne seines pietistischen Glaubens äußerst streng erzogen, was Reinvere in seinem eigenhändigen Libretto zum düsteren Bild eines repressiven Milieus der Unterdrückung hochstilisiert.
Entscheidender freilich ist Minonas Beethoven-Connection, und hier wird die Sache wirklich spekulativ. Als Josephine noch in Wien lebte und den Mädchennamen Brunsvik führte (genauer: Gräfin Josephine Brunsvik de Korompa), erhielt sie Klavierunterricht von Ludwig von Beethoven, der sich sofort in sie verliebte. Das war zwar bei seinen Klavierschülerinnen häufiger der Fall, diesmal aber mündete die Passion des Klavierlehrers in einen Briefwechsel, der die Vermutung nährt, dass die junge Baronin die Gefühle Beethovens sehr tief erwiderte. An Heirat mit dem nicht standesgemäßen Tonsetzer war freilich nicht zu denken. Aber auf dieser Basis vermuten einige Biographen, dass Josephine eben jene „Unsterbliche Geliebte“ war, die Beethoven in seinem berühmten Brief anspricht, mit der vielzitierten Zeile: „…schon im Bette drängen sich die Ideen zu dir meine Unsterbliche Geliebte,…“ Da Beethoven den Brief aber nie abschickte, bleibt die Vermutung reine Spekulation.
Noch spekulativer ist die These, dass Minona womöglich eine Frucht dieser unstandesgemäßen Leidenschaft war, gezeugt in einer ominösen Nacht in Prag 1812, als Josephine dorthin zu reisen beabsichtigte (ob sie es tat, lässt sich nicht belegen) und Beethoven ebenfalls dort weilte. – Und wenn nun Sie, geduldiger Leser, auf die Länge dieser umständlichen Spekulationen zurückblicken, dann ahnen Sie vermutlich, wie schwer sich eine Oper daran tun wird, all dies in eine lebendige dramatische Bühnenwelt mitzuschleppen. Jüri Reinvere ist an dieser Aufgabe gescheitert.
Bis hierher ist ja noch einmal die Frage beantwortet, was ihn denn, über die biographisch-geographische Koinzidenz in Reval/Tallinn hinaus, an dieser Frau eigentlich so faszinierte. Es war offenbar die Tatsache, dass Minona sich durchaus für die Musik des Klavierlehrers ihrer Mutter begeisterte. Reinvere erkennt in ihr den romantischen Prototyp der sich für einen Künstler verzehrenden Frau, die diesem gleichsam ihre Identität opfert – und sich in diesem Fall nicht nur als dessen seelische, sondern auch dessen leibliche Tochter imaginiert. Wenn sich Reinvere darauf konzentriert hätte, hätte das vermutlich sogar ziemlich spannend werden können. Wenn er dann aber den Baron Stackelberg als Minonas zweiten Übervater installiert, der sie mit seinem Pietismus ebenfalls ihrem eigenen Lebensentwurf entfremdet – dann ist das die entscheidende Drehung zu viel. Um all dieses multiple Frauenleid auszubreiten, überfrachtet Reinvere sein Libretto mit selten luziden, oft aber ermüdenden Textergüssen und kunstphilosophischen Exkursen, gegen die die Schopenhauer-Euphorie von Tristan und Isolde sich wie ein erfrischend kurzweiliges Digest ausnimmt.
Und leider fehlt auch Reinveres Musik sowohl der dramatisch-situative Treibstoff wie auch der große dramaturgische Bogen. In den ersten Szenen mäandert sie in einem ziellosen Dissonanzen-Geschiebe dahin, die Gesangspartien wiederholen stereotyp ähnliche Patterns und bleiben individualitätslos. Wenn im zweiten Akt die gealterte Minona die Bühnenherrschaft übernimmt und sich am gefeierten Meister (die Szene spielt hier bezeichnenderweise im „Beethovenjahr“ 1870) ihre musikphilosophischen Exkurse entzünden, wird die Musik seltsamerweise viel „romantischer“ im Idiom – aber damit immerhin auch plastischer in den melodischen Gestalten. Aber Minonas Suada vermag sie dennoch nicht zu beglaubigen. Und wenn dann mit dem überdeutlichen Zitat aus dem „Fidelio“-Quartett „Mir ist so wunderbar“ der Meister selbst (zumindest musikalisch) die Klangwelt betritt und gleich auch noch seine Leonore auf die Bühne mitbringt, damit die mit Minona Meinungsverschiedenheiten zu Beethoven und zur Utopie in der Musik austragen kann – dann begreift man zwar, dass es Reinvere hier um nichts Geringeres als um eine Rücknahme der „Fidelio“-Utopie geht, mit Minona als Gegenbild des Scheiterns zu Leonoras Ideal von Gattentreue und Befreiung. Aber das musikdramatische Level auf der Bühne ist damit auf dem Niveau eines spitzfindigen Essays angekommen – mit anderen Worten: Es ist bei Null.
Als Regisseur kann man diesem Konstrukt eigentlich nur Schiffbruch erleiden – wofür Hendrik Müller die Probe aufs Exempel liefert. Dabei fängt er so witzig an: mit einem Ausschnitt aus Mauricio Kagels Film „Ludwig van“, aufgeführt im Beethovenjahr 1970: Auf einem Acker vor den mächtigen Öl-Lagern in der Köln-Bonner Bucht (Beethoven wurde ja in Bonn geboren) beteuert ein vierschrötiger Bauer vor seinem stämmigen Gaul, dass er der letzte lebende Nachfahre Ludwig van Beethovens sei. Kagels geistvolle Parodie setzt damit das Level für die Regie, das diese aber völlig verfehlt. Am besten gelingt noch die erste Szene: der Diskurs zwischen Josephine und ihrer Freundin, der Baronin von Goltz, über die Prager Begegnung mit dem Komponisten und die mutmaßliche Zeugung Minonas. Dieser Dialog bekommt durch Marc Weegers Drehbühne mit Bibliothek, Käfig und Beethoven-Memorial und durch den Rundprospekt, der die Ränge des Theaters Regensburg reproduziert, einen Rahmen, den man unschwer als Kunstraum dechiffriert: eine optisch attraktive Bildwelt, wechselvoll und effektsicher. Die alte Minona ist bereits hier surreal präsent, sie agiert als Regisseurin, die den Videofilmer Andreas Erb (das Programmheft bezeichnet ihn als „Minonas Blick“) anleitet, ihre Vision jener Liebesbeziehung ihrer Mutter zu dokumentieren. Oder wohl eher: zu fingieren. Minona konstruiert ihre Biographie als Beethovens Tochter also selbst.
Das wäre ziemlich klug – wenn Müller sich nicht schon hier mit einem fatalen Regieeinfall selbst in die Quere käme. Der alten Minona legt er nämlich immer wieder die Kunstergüsse der sinistren Beethoven-Verehrerin Elly Ney in den Mund, die Beethovens Ästhetik 1942 ins Völkisch-Nationale verzerrte und damit der Nazi-Ideologie gute Dienste leistete. Diese Provenienz der Texte wird aber in der Inszenierung nicht dechiffriert, man muss das als Zuschauer erkennen und wissen. Damit aber wird die Hauptfigur der Oper irreparabel beschädigt. Wenn man in Minona eine Nazi-Ideologin sieht (was ja allein schon ein bizarrer Anachronismus ist), müsste man sich auch genau mit diesem Thema offensiv auseinandersetzen: Beethovens Vereinnahmung durch die Nazis. Das dem Libretto nur beiläufig unterzujubeln, ist indiskutabel.
So aber verheddert sich Müller zunehmend in seinen Einfällen. Stackelbergs pietistisches Milieu in Reval überzeichnet er in Richtung auf evangelikale Sekten in den USA, die „Fidelio“-Bezüge des letzten Aktes deutet er um in ein sinistres Gangster-Milieu, wo zwei Diener, die Josephines Briefe klauen wollen, mal eben per Schalldämpfer-Kopfschuss zur Strecke gebracht werden. Und zwar von jener Figur, die laut Libretto Leonore wäre, die hier aber keiner erkennt, der es nicht sowieso weiß, weil sie Minona als verquere Mischung aus Gangsterlady und Anstaltsärztin drangsaliert. Irgendwie geistern auch Komponistengestalten aller Zeiten über diese Bühne. Und am Ende treibt diese Leonore die arme Minona in einen Pillen-Selbstmord, vollzogen mehreren Eskalationsstufen. Vermutlich hat die Regie das als Phantasmagorie in Minonas Kopf gemeint. Gelungen ist ihr damit eine weitgehende Dekonstruktion von Reinveres Finale – aber zu welchem höheren Zweck? Soll man in dem Gangstermilieu Roccos Gefängnis-Ambiente wiedererkennen? Ich hab’s nicht wirklich verstanden.
Musikalisch war der Abend achtbar. Unter der Leitung des Regensburger GMDs Chin-Chao Lin bringen Orchester und Sänger-Ensemble Reinveres Musik klangvoll zur Geltung, ohne sie attraktiver machen zu können, als sie ist. Anna Pisareva als Josephine und als junge Minona ist mit attraktiv dunklem Timbre und unterentwickelter Artikulation sehr präsent, arbeitet sich aber ebenso wie die klar konturierte Vera Semieniuk als Gräfin von Goltz an der Gleichförmigkeit der Gesangslinien in diesem ersten Akt ziemlich vergeblich ab. Adam Kruzel, Johannes Mooser und Deniz Yilmaz geben dem Baron von Stackelberg, dem Grafen von Teleki und dem Attila de Gerando klanglich attraktive, aber wenig individuelle Statur. So war es Theodora Varga vorbehalten, als gealterte Minona im zweiten Akt eine Figur auf die Bühne zu stellen, die die Zuhörer mit dramatischer Empathie erreicht und der Aufführung ein paar starke Momente beschert. Auch die Leonore von Deniz Yetim entfaltet eine grell-bizarre vokale Präsenz, ohne als Bühnenfigur wirklich plausibel werden zu können.
Das in Sachen neuer Oper durchaus empfängliche Regensburger Publikum spendete dem Abend Beifall und Bravos – was, bei allen Einwänden, doch auch eine schöne Geste bleibt, weil sie Zustimmung zu den Mühen um zeitgenössische Kunst bezeugt. Und die hat das Theater Regensburg allemal verdient.