Foto: Film trifft Musik trifft Theater: Szene aus Christiane Jatahys zweitem "Odyssee"-Projekt © Paul Leclaire/Ruhrtriennale 2019
Text:Maike Grabow, am 20. September 2019
Sind wir alle Odysseus? Eine Frage, die sich durch die Arbeit von Christiane Jatahy, „The Lingering Now / O Agora que demora / Our Odyssey 2“, zieht. Und dabei mehr wird als eine Frage. Eine Übersetzung des Titels könnte „Das anhaltende Jetzt“ heißen. Es ist ein Zustand, der perfekt den Abend beschreibt: Die Performer*innen, die sich sowohl im Film als auch im Saal in einem „Ist“-Zustand ohne fortkommen befinden, Homers Dichtung, die selbst nach so vielen Jahren noch auf die Gegenwart bezogen werden kann und die Dauer der Inszenierung (ein Tick zu lang).
In ihrer zweiten mehrsprachigen Arbeit zu dem Epos „Ulysses“ des griechischen Dichters Homer (die erste war „Ithaka“) bringt die brasilianische Regisseurin Menschen im Exil zusammen, die nicht nach Hause zurückkehren können und die auf der Suche sind nach ihrer Vergangenheit und Zukunft sind. Das alles, um einen Raum zu erschaffen, in dem man die Zukunft verändern kann. So zumindest lautet der Appell der Regisseurin zu Beginn der Deutschen Erstaufführung im Rahmen der Ruhrtriennale 2019. Doch bevor man dies machen kann, muss das Publikum seinen Platz finden. Was nicht so einfach ist. In der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord erleben wir Film, Performance und Theater zugleich. Und das nicht voneinander getrennt, sondern stets ineinander verflochten. Nach den ersten Minuten – als sich im Film Odysseus vorstellt – hört man schon erstmals die Kommentare der Performer*innen aus dem Publikumsraum. Sie sind mittendrin. Oder vielmehr am Rand sitzend. Die Ebenen verschwinden, die Menschen im Video interagieren mit den Leuten im Saal, die Performer*innen mit dem Publikum sowie mit den Akteur*innen im Film. Film und Performance befinden sich in einem ständigen Dialog. Dies erfordert nicht nur ein perfektes Timing, sondern auch eine schnelle Auffassungsgabe, um nicht den Überblick zu verlieren.
Die Inszenierung folgt den Begegnungen Odysseus‘ auf seinen Irrfahrten: der einäugige Polyphem, die Laistrygonen, Kirke, Hades, die Sirenen, Skylla, die Ankunft in Ithaka und die Ehrung der Vorfahren. Doch gibt es eben nicht nur einen Odysseus. Christiane Jatahy vereint in ihrer Arbeit verschiedene Schauspieler*innen aus und in unterschiedlichen Kontinenten und Staaten – dem Libanon, Palästina, Südafrika, Griechenland und Brasilien. In all diesen Ländern werden ähnliche Szenen gedreht. Die Akteur*innen spielen zwar Odysseus und die anderen Figuren, bringen aber auch biografische Erlebnisse mit rein. Homers antiker Text vermischt sich mit den biografischen Erzählungen. Nicht immer ist klar, ob es Odysseus oder der Schauspieler ist, der spricht. Wirklichkeit und Fiktion vermischt sich, wie eine Performerin erkennt. Der Abend soll zeigen, dass sich auch heute Menschen auf einer Irrfahrt befinden. Bewegend, wie die Schauspielerin Yara Kraish uns im Film erzählt, dass sie nicht in ihre Heimat Syrien gehen kann, obwohl sie nur ein paar Minuten weit weg ist. Wie nah und doch so fern das Ziel ist. Wie bei Odysseus ist eine Ankunft ungewiss. Ihre Geschichte wird immer wieder aufgegriffen. Rührend berichtet sie, wie sie zum Studieren aus Syrien wegzog und als sie zurückkehrte, verhaftet wurde. Wie ihr in der Gefangenschaft die Würde und Hoffnung geraubt wurde, wie sie ihre Freiheit zurückerlangte und dennoch nicht nach Hause zurückkehren kann.
Aber es bleibt nicht bei dieser Geschichte. Manchmal wird zwanghaft versucht, Parallelen zu finden: Krieg, Tod, Flucht, Fest, Umweltzerstörung, Diktatur. Und auch der Versuch, das Publikum so sehr einzubinden, dass es am Ende denkt, es sei Odysseus, ist etwas fahrig. In der letzten Sequenz reist die Regisseurin zu einem indigenen Volk im Amazonasgebiet, um dort eine Verbindung zu ihrem Großvater zu finden. Das wirkt leider ebenfalls, mit der Anspielung auf die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in Brasilien, zu weit hergeholt für einen eigentlich thematisch runden Abend, der zwar alle nachdenklich zurücklässt, aber eben mit der Frage: Warum sind wir Odysseus?