Foto: Szene aus "Angerichtet" am LTT © David Graeter
Text:Elisabeth Maier, am 2. Juli 2016
Bei Flusskrebsen, umspielt von einer Vinaigrette aus Estragon und Frühlingszwiebeln, bahnt sich im Sternerestaurant eine Tragödie an. Der niederländische Schriftsteller Herman Koch blickt im Roman „Angerichtet“ hinter die vermeintlich heile Fassade einer Familie. Den Bestseller, in dem Koch ebenso virtuos mit Identifikation wie mit der Frage nach Schuld und Moral spielt, hat Oberspielleiter Christoph Roos auf der Werkstattbühne des Landestheaters Tübingen (LTT) in Szene gesetzt.
Sein straff getaktetes Kammerspiel geht unter die Haut. Der Balanceakt zwischen tragischen und komischen Elementen, der im Roman nicht konsequent gelingt, fordert die Schauspieler in Lene Gröschs Theaterfassung heraus. Beherzt überschreiten sie Grenzen. Und obwohl der Plot am Ende auch auf der Bühne konstruiert wirkt, ist die Regiearbeit bestürzend aktuell.
Schräg fällt der Tisch in dem schicken Lokal ab, in das der erfolgsverwöhnte Politiker Serge mit Gattin seinen Versager-Bruder Paul einlädt. Auf dieses symbolkräftige Bild setzt Ausstatterin Vesna Hiltmann. Designertapeten in Blautönen wecken Sehnsüchte. Da treten Machtkonstellationen klar zu Tage. Schon beim Empfang im Restaurant wird der beurlaubte Geschichtslehrer Paul mit seinem berühmten Bruder verglichen. Sensibel legt Martin Bringmann Demütigungen offen, die das Leben seiner Figur prägen. Zugleich macht ihn seine Frau glücklich. Anfangs ist er der Gute, dann wendet sich das Blatt – wie auch bei seiner Gattin. Jennifer Kornprobst peitscht ihre Claire vom zärtlichen Naivchen zur brutalen Löwenmutter, die ihren Sohn mit Klauen und Zähnen verteidigt.
Denn Kochs Roman ist kein seichtes Familiendrama über frustrierte Yuppies. Der Niederländer erzählt die Geschichte von Eltern, deren behütete Kinder zu Mördern und zu Erpressern werden. Die Schlagzeile von einer Obdachlosen, die vor einem Bankautomaten tot geprügelt wird, sorgt weltweit für Empörung. Als der smarte Parteisoldat Serge, der Ministerpräsident werden will, erkennt, dass seine Söhne und ihr Cousin die Tat begingen, bricht seine Welt zusammen. Sacht und leise demontiert Rolf Kindermann die starke Persönlichkeit. Seine Ehrlichkeit überzeugt. Sabine Weithöner als seine Frau darf ihre Angst nur unter getönten Sonnenbrillengläsern zeigen. Ihr Ansatz bleibt ebenso oberflächlich wie der von Heiner Kock. Der junge Schauspieler muss vom Kellner bis zum Rektor in viele Rollen schlüpfen, verrutscht dabei manchmal in die Karikatur. Sein großes Potenzial entfaltet er dann aber als Sohn von Paul und Claire. Der psychisch kranker Vater hat ihm beigebracht, dass Gewalt angeblich die einzige Lösung ist. So wird er zum kalten Killer, der „richtig viel Spaß“ beim Töten hat. Erst später holt ihn die Angst ein.
Mit feinem Gespür für Situationen schafft es Regisseur Roos, die Würde der Figuren zu bewahren. Brillant legt der LTT-Hausregisseur Sprünge in den Seelen der Menschen offen, die an der Gleichgültigkeit ihrer erfolgsverwöhnten Generation zerbrechen. Klug und schnörkellos ist seine Theatersprache, die auf die Sensibilität der Schauspieler baut. Mit „Angerichtet“ kritisiert Roos eine Gesellschaft, die von Egoisten dominiert wird. In seiner besonnenen Lesart geht diese ekelhafte neue Welt an ihrer eigenen Ignoranz zugrunde.