Foto: "Das Leben der Bohème" am Staatstheater Nürnberg. Henriette Schmidt, Thomas L. Dietz, Martin Bruchmann, Karen Dahmen, Philipp Weigand © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 19. April 2015
Zumindest wissen wir jetzt mehr darüber, warum das Händchen gar so kalt geworden ist: Der Musiker Alexandre hat die Stalking-Melodie als Werbe-Jingle für Speiseeis geschrieben, nennt den ebenso unsterblichen wie nicht totzukriegenden Ohrwurm aus „La Bohème“ verächtlich „kommerziellen Scheiß“ und macht lieber avantgardistischen Krach. Er lebt in einer Loser-WG, wo man getrieben von der Sehnsucht nach Liebe, Kunst und Frühstück das Selbstwertgefühl klar definiert hat: „Wir sind nicht arm, wir sind die Bohème“. Neben dem Klecks-Maler und der Plapper-Philosophin gehört noch ein Grübel-Poet zur brotlosen, aber gefühlsprallen Clique – und er stöhnt immer laut auf, wenn einer der redseligen Freunde die Sprache mit Herzschmerz-Floskeln malträtiert. Vielleicht ist er aber auch nur frustriert, weil er in einer Welt leben muss, „wo keine Suhrkamp-Verträge vom Himmel fallen“. Oder gar „Nürnberger Wurstfabrikanten“ als Sponsoren gebraucht werden. Mit der herzensreinen Putzfrau Mimi und der moralfreien Spelunkenjenny Musetta kommt ein wenig weibliche Ordnung in die Untermieter-Anarchie – für (fast) jedes Problem gibt es fortan ein Lied. Nicht immer sinnvoll, aber bei so viel Stimme im Ensemble (imponierend: Elke Wollmann, Henriette Schmidt, Martin Bruchmann, Philipp Weigand) ein durch und durch redliches Talentabschöpfungs-Projekt.
Stefan Otteni, Regisseur und hier auch ein Marginalien züchtender Gelegenheitsautor für Querschlag-Kommentare, nimmt für seine Adaption Murgers Milieuskizzen immerhin als Folie, aber Puccinis Oper nur zur Gedankenstütze, wenn er mit überquellender Ironie die Spur des Künstlers in der Gesellschaft aufzunehmen scheint. Tut er aber gar nicht, denn seine Bühnen-Lebewesen sind allesamt Kreaturen aus zweiter Hand, Phantome, die im Vorurteil des Bürger-Blicks ihre Existenz behaupten. Sie wedeln mit Idealen und machen Schulden, liegen im Bett und schwadronieren an der Erwartungshaltung von Lieschen Müller entlang: „Liebe und Kunst, alles andere ist überflüssig“. Da sträubt sich das Haar zuverlässig. Das Konzept der Aufführung bleibt schlicht: Man baut Klischees zur Pyramide auf und lässt dann alles krachend einstürzen. Immer wieder. Aber mit welcher Absicht? Nur um „das Publikum“ in seinen Gedanken zu enttarnen? Das Zitat „Künstler sind nicht überflüssig, weil sie uns den Alltag vergessen lassen“, wird da wie eine Stinkbombe platziert.
Musikerin Bettina Ostermeier (an der Spitze eines flotten Quintetts dirigiert sie anfangs mit der Zigarette in der Hand, aber solche Lässigkeit hat die verkrampfte Aufführung eben nicht) fädelt mit eigenen Arrangements unter anderem Blixa Bargeld, David Bowie und Jacques Brel ein, um die Geschichte vom Opern-Pathos abzulenken. Dazwischen werden Ottenis Inter-Aktionen immer neckischer. Für die Kostümfest-Finanzierung der Folge-Szene lässt er die Schauspieler mit Klingelbeutel zur Kollekte ins Parkett ausschwärmen, als Lokalkolorit bringt er örtliche Adressen ins Spiel wie der Franken-„Tatort“. Und wenn der (selbstverständlich blöde) Kunstagent dem Maler im Atelier einen Müllhaufen als Installation abkauft, sind wir in aller Plumpheit dort gelandet, wo Ephraim Kishon im letzten Jahrhundert pseudosatirisch mit „Zieh den Stecker raus, das Wasser kocht“ polterte. Am Ende tappen dann ja doch alle in die „Unglück ist ja so romantisch“-Falle – dem Schicksal und dem Kitsch ergeben.
Womöglich ist dieses kuriose Stück, das die Ernsthaftigkeit von Kaurismäkis Film von 1992 sowieso nicht beachtete, von Stefan Otteni um ein paar weitere, uneinsehbare Ecken gedacht. Denn man sieht dauernd Sing-Schauspieler, die sich selbst dabei beobachten, wie sie etwas beobachten. Was das genau ist, der eigene Nabel etwa oder der Sinn des Bühnenlebens, scheint dem Regisseur während der Proben entfallen zu sein – da wollte er nur noch spielen, am liebsten unendlich. „Man muss sich doch verschwenden, in der Liebe und der Kunst“, sagt die Philosophin zur Wegzehrung. Da ist der Abend schon gut drei Stunden alt und die Singgemeinschaft tröstet harmonisch mit „Es bleibt uns der Wind“. Diesmal war es allenfalls die Windmaschine.