Foto: Nadja Rui (l.) und Magdalena Wabitsch in „Schimmerndes Wasser" © Susanne Reichardt/Junges Theater Heidelberg
Text:Sophie Vondung, am 12. April 2021
„Wohin würde ich fliehen, wenn ich glaubte, meine Lehrerin wollte mich töten?“ Diese Frage müssen sich die beiden Schülerinnen Ally und Manisha stellen, nachdem ihre Lehrerin sie unter Hasstiraden aus der Schule getrieben hat. Warum? Das Klassenmeerschweinchen ist tot. Und wer hatte Klassentier-Dienst? Sie erraten es, Ally und Manisha.
Regisseur Andreas Weinmann und Bühnen- und Kostümbildnerin Lisa Köhler entwerfen mit der deutschsprachigen Erstaufführung des schwedischen Stücks „Schimmerndes Wasser“ eine morbide Grusel-Welt mit starken Extremen: Ally (Magdalena Wabitsch) und Manisha (Nadja Rui) sind Außenseiterinnen. Ally interessiert sich für Anatomie und seziert in ihrer Freizeit Frösche. Manisha trägt eine Hannibal-Lecter-Maske, und zitiert ununterbrochen Horrorfilme. Den beiden gegenüber stehen die drei coolen Girls Kitty, Mietzi, und Sissi, die mit ihren übergroßen, stark geschminkten Puppenköpfen wie absurd verfremdete Versionen der beiden Hauptcharaktere wirken. Sie geben TikTok-Tänze zum Besten, werfen mit Anglizismen um sich, und schimpfen die anderen beiden Mädchen „Freaks“. Natürlich hinter deren Rücken, wie sich das für diese Sorte „Mean Girls“ gehört. Irgendwo dazwischen findet sich die Klassenlehrerin, die sich in ihrer psychopathischen Obsession mit dem Meerschweinchen verliert und Ally und Manisha auf dem Kieker hat.
Johanna Dähler spielt die Lehrerin wunderbar humoristisch überzeichnet als graue Perückenschurkin, die an Fräulein Knüppelkuh aus „Matilda“ oder auch an Nicole Kidmans fiese Tierpräparatorin aus „Paddington“ erinnert. „Strammgestanden!“, herrscht sie die beiden Mädchen im Klassenzimmer an, um sie dann in einem Verhör, das in seiner Unerbittlichkeit Tatort-Kommissare vor Neid erblassen lässt, über den Verbleib ihres geliebten Meerschweinchens zu befragen, während sie ihnen ein laminiertes Foto desselben vor die Nasen hält.
Ally und Manisha erkennen sich schließlich als Leidensgenossinnen und freunden sich widerstrebend an. Beide haben ihre Väter an tiefe Gewässer verloren. Beide grenzen sich in der Folge ab. Manishas Schwester versucht, sie zu überreden, sich doch mal zu schminken („bisschen billiger Concealer reicht schon!“), mit zur Party zu kommen. Als die mit Horrorfilm-Zitaten abblockt, wirft sie ihr an den Kopf: „Du bist krank. Jemand sollte ‘ne Studie über dich machen. Ne fucking wissenschaftliche Studie!“ Allys Mutter versucht indessen verzweifelt, die Verbindung zu ihrer Tochter zurückzugewinnen und weint: „Warum kannst du nicht mit mir reden? Ich weiß doch auch nicht mehr weiter!“ Die drei coolen Girls aus der Klasse mobben die beiden: „Die Psychos sollte man von der Schule droppen“ – „Exactly!“ Und die zwei hauen ab. In den dunklen Wald. Die wummernden Soundeffekte von Musiker Balthasar Wörner erzeugen eine bedrohliche Stimmung, als Ally und Manisha in der Mitte des geheimnisvollen Waldsees eine Gestalt entdecken. Ally glaubt ihren ertrunkenen Vater zu erkennen. Der war Professor für Wahrscheinlichkeitslehre. „Das heißt, dass nichts zu 100 Prozent wahr ist und nichts zu 100 Prozent falsch“, erklärt sie Manisha. Vielleicht ist Papa dann gar nicht tot, und vielleicht gibt es die Schule nur in unserer Vorstellung, mutmaßen die beiden hoffnungsvoll.
Dabei blicken sie in die spiegelnde Oberfläche des geheimnisvollen Sees. Das funktioniert dank des Bühnenbilds, das simpel und faszinierend zugleich ist: Die säulenartig einzeln aufgestellten Schließschränke können Kinderzimmer, Bücherregal, oder Wohnung sein, und dienen den Charakteren als Rückzugsorte. Durch auf sie projizierte Äste wird das Schließschrank-Labyrinth schnell zum Wald. Der spiegelnde Boden verwandelt sich zur Wasseroberfläche des Sees. Rasante Szenenwechsel und kluge Kameraeinstellungen sorgen darüber hinaus für Spannung und machen den Stream zu einem gelungenen Theaterfilm.
Mit „Schimmerndes Wasser“ ist dem Produktionsteam eine skurrile Horrorgeschichte gelungen, die menschliche Abgründe aufzeigt, und dabei noch Spaß macht. Mit den beiden Hauptcharakteren zu sympathisieren fällt trotz deren morbider Hobbies leicht, dank des sympathischen und überzeugenden Spiels von Nadja Rui und Magdalena Wabitsch. Nach etwas mehr als 60 Minuten bleibt am offenen Ende des Stücks jedoch das Gefühl zurück, dass die Geschichte nicht zu Ende erzählt, sondern willkürlich abgebrochen ist. Als das ganze Team sich schließlich gegenseitig Applaus spendet und sich mit FFP2-Masken vor der Kamera verbeugt, wirkt das wie eine weitere Szene des Stücks, auch wegen der dazu ertönenden düsteren Gruselmusik. So lässt der Theaterfilm viele Fragen zurück – und den beunruhigenden Eindruck, in einem Zwischenuniversum zwischen Realität und Fiktion verblieben zu sein.