So dringlich, so wesentlich diese Bewusstmachung, dieser Appell allerdings sind, sind ihnen doch Grenzen gesetzt. Nämlich die der Theater-, im vorliegenden Fall der Musiktheaterbühne. Und bei aller inhaltlichen Sympathie und Zustimmung muss gesagt werden, dass der Regisseur Volker Lösch Beethovens Musik zwar Raum zugesteht (es fehlt keine Note), ihr aber offenkundig nie wirklich zugehört hat, weder ihre Kostbarkeiten noch ihre Probleme würdigt und die von Beethoven so fanatisch versuchte Dialektik von Abstraktion und Konkretisierung ignoriert. Ein Beispiel: das berühmte Quartett „Mir ist so wunderbar“. Die Gedanken und Gefühle von vier Menschen kreisen um die Liebe und sich selbst. Sie kommunizieren nicht untereinander und dennoch gemeinsam mit dem Publikum, ein mit unerbittlicher Sanftheit gestalteter, sogar dezent ironisierter Moment menschlicher Wahrhaftigkeit. Jetzt in Bonn kommt das Quartett fast ansatzlos aus einer Kaskade energiegeladenen, vorwärtsdrängenden Sprechens über Gefangenschaft und Gewalt und wird von einer ebensolchen abgefedert. Es hat keinen Ort in der Dramaturgie des Abends. Es ist bloß dabei.
So ergeht es vielen, wenn auch nicht allen Teilen der Musik. Was auch deshalb besonders schade ist, weil so wunderbar musiziert wird. Dirk Kaftan und das Beethoven Orchester Bonn bieten einen Beethoven von selten federnder Klarheit da, ganz exakt ausbalanciert, und doch eigenständig phrasiert und gestaltet. Dazu stellen sich Thomas Mohr (Florestan), Mark Morouse (Pizarro) und der gelegentlich zu laute Karl-Heinz Lehner (Rocco) nicht nur der Inszenierung, sondern erweisen sich als erstklassige musikalische Interpreten, obwohl ihnen die ungünstige Akustik der Bühnenlandschaft das musikalische Gestalten schwer macht. Und Martina Welschenbach überstrahlt sie noch. Ihr die lyrische Herkunft nie verleugnender, jugendlich aufblühender Sopran singt auch die nahezu unsingbaren Teile der so schwierigen Titelpartie mühelos und gestaltet sie intensiv mit großer Wärme. Aber diese Besonderheiten sind vielleicht nur zu hören, wenn man als Zuschauer seinen „Fidelio“ von irgendwoher mitgebracht hat nach Bonn, das aufsteigende Gefühl, die schrankenlose Wut und Leidenschaft, die große Sehnsucht nach Freiheit und Güte, die Beethoven der Partitur eingeschrieben hat. Mit ihr macht Volker Lösch nichts. Er führt die Sänger entschlossen, findet mal, etwa im Anfangsduett, durchaus eigenständige Wege und gestaltet auch die abgedroschenen Bilder – Pizarros und Roccos Duett im Wellness-Bad, Leonore muss während ihrer Arie fliegen – detailliert. Aber die Musik lebt nicht wirklich, wie auch nicht wirklich Theater gespielt wird.
Löschs Theater rüttelt auf. Die Schicksale von Hakan Akay, Dogan Akhanli, Süleyman Demirtas, Agit Keser und Dilan Yacicioglu können und dürfen uns nicht kalt lassen. Genau wie die vieler anderer Menschen. Aber seine Inszenierung wirft auch Fragen auf. Nicht nur die nach der kaum vorhandenen Spiellust oder warum es nötig ist, Beethovens Musik zur Versinnlichungskomponente herabzuwürdigen. Es ist plausibel und scheint richtig, „Fidelio“ als Gleichnis zu betrachten, aber muss es von seiner heutigen Deutung wirklich derart überwuchert werden? Sind sie nötig, die Erklärungen, Analysen, Illustrationen, die Verbindungen zwischen den Ebenen schaffen wollen, aber letztlich nur verdoppeln, verdrei- oder gar verfünffachen? Da sehen wir die Zeitzeugen am Tisch sitzen, die Opernsänger spielen vor dem Green-Screen, auf der Leinwand werden Bilder zugemischt, im Graben tönt Musik, die Live-Kameraleute marodieren über die Bühne. Man muss sich entscheiden, wo man hinsieht oder ob man die Augen schließt. Wer die falsche Entscheidung trifft, findet Leere. Und warum sprechen die Zeitzeugen festgelegten, auswendig gelernten Text, als würden sie sich selber darstellen, ohne anzuerkennen, dass sie sich auf einer Theaterbühne befinden? Kann das nicht leicht als De-Authentifizierung missverstanden werden, als Depravierung des doch ungeheuer wesentlichen Anliegens?
Und dann gibt es wieder Momente, die sehr deutlich für die Idee dieses Abends sprechen. Im zweiten Teil sitzen einmal fast alle Beteiligten um den Tisch herum und lesen aus dem Buch eines willkürlich inhaftierten und gequälten Menschen. Sie hören sich zu, sie sind beieinander, ihre Empathie verbindet sich und schwappt ins Publikum. Aus dieser positiven Energie könnte Beethovens Stück neue Konturen gewinnen. Hier bleibt sie Moment. Und am Ende, wenn der Green-Screen und alles andere abgeräumt werden, stehen Chor und Solisten hinter dem hochgefahrenen Graben aufgereiht, im bis zur Brandmauer offenen Bühnenhaus und schleudern uns ihren ganz persönlichen Beethoven ins Gesicht. Und treffen. Es gibt also auch heute noch Wege zu „Fidelio“. Aber man muss sie sehr klar definieren.