Der „Prolog“ der Theben-Saga am Deutschen Schauspielhaus

Natur-Gewalt

Roland Schimmelpfennig: Anthropolis I: Prolog/Dionoysos

Theater:Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere:15.09.2023 (UA)Autor(in) der Vorlage:EuripidesRegie:Karin Beier

Dionysos, der Gott des Theaters, des Weins und des Rausches, ist die Hauptfigur der Tragödie „Die Bakchen“ des Euripides. Er steht damit auch im Mittelpunkt des Auftakts der fünfteiligen Antiken-Serie „Anthropolis“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Hausherrin und Hauptregisseurin Karin Beier will in fünf Premieren in den nächsten Wochen anhand mehr („Ödipus“, „Antigone“) oder weniger („Laios“, „Iokaste“) bekannter Geschichten um die griechische Mythologie-Metropole Theben menschliche Abgründe durchspielen.

Michael Wittenborn beginnt als Erzähler vor dem Vorhang, berichtet von Europa und dem Stier alias Zeus. Dann hebt sich mit Bühnennebel der Vorhang und die fünf weiteren Akteure sowie Lina Beckmann betreten die weite Bühne (Johannes Schütz), berichten von Europas Bruder Kadmos, der statt seine Schwester zu finden, Theben gründet. Dabei räumen die Sieben die Bühne vom Mulch-Dreck frei, feiern mit einer Kinderschar an Stelle der Götter ein kurzes friedliches Fest, bevor die Geschichte vom Halb-Gott Dionysos, auch einem Sohn der Stadt, erzählt wird.

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Fragen an den Mythos

Roland Schimmelpfennig, der alle Texte für „Anthropolis“ geschrieben hat, trifft für die Vorgeschichte der Stadt und die Biographie des Dinoysos einen leichten und klaren Erzählton, deutet erst Verbindungen in die Gegenwart an, lässt dann Fragen und Zweifel an der antiken Überlieferung aufkommen und verbindet sie mit unseren aktuellen Verunsicherungen: Sind Glauben oder Zweifel die Rettung oder kann die Kunst ein Anker sein? Konkret stellt die überragende Lina Beckmann als Vater Kadmos Semeles Schwangerschaft von Zeus ironisch in Frage. Und besonders Kristof Van Boven bezweifelt den Nutzen der alten Geschichten, „Diesen Quatsch braucht niemand“. Er wird im zweiten Teil den Dionysos-Gegner Pentheus spielen.

Übertragung der Tragödie

Doch zunächst verbindet Lina Beckmann als Conférencier die beiden Teile des Abends, den Prolog und die „Bakchen“-Bearbeitung „Dionysos“ mit einer aus dem Ruder laufenden krass-komischen Weinprobe zum Beginn des zweiten Teils. Mit der Kulturpflanze Wein steht der jüngste der olympischen Götter für eine domestizierte Natur, die im Wein-Rausch extrem gewalttätige Folgen haben kann. Hier hält sich Schimmelpfennigs Text eng an das Original des Euripides, das Stück ist mehr raffende Übertragung als eine Überschreibung. Da stellt sich die Frage, was der Sinn dieser Auftragsarbeit ist, wenn die Inszenierung die übersetzten Chortexte gar nicht mehr brauchen kann – zumal sich ihr Stil mit dem des ersten Teils nicht verbinden lässt. Lina Beckmann rahmt im Goldglitzerfummel der Weinprobe (Kostüme: Wicke Naujoks) jedenfalls die folgenden Szenen als Chorersatz mit kurzen Überlegungen über Stadt und Katastrophe.

Effekte und Ensemble

Und Carlo Ljubek hat es schwer, nach dem furios komisch-alkoholischen Start für seine Geschichte als Heimkehrer Dionysos den rechten Ton zu finden. Die fast unspielbare Rolle des rachedurstigen Gottes spielt er mit kluger Nüchternheit; das Zentrum des Abends wird er auch als Titelfigur damit nicht. Das ist neben der extrem präsenten Weinfachfrau der Dionysos-Skeptiker Kristof Van Boven als Pentheus samt seinem Schimmel (laut Programmheft namens Sam), mit dem er zweimal über die Bühne reitet: Der vernunftbetonte Herrscher macht sich deutlich sichtbar die Natur untertan.

Nachdem Pentheus unter Zuhilfenahme von Wein durch Dionysos dazu verführt wurde, als Frau das wilde Treiben in den Wäldern zu verfolgen, wird er von der eigenen Mutter grausam getötet, es vollzieht sich die Rache des kleinmütigen Gottes. Währenddessen trommelt auf der Bühne ein große Gruppe von Taiki Trommler:innen auf ihren teils riesigen Instrumenten mitreißend einen immer schnelleren Rhythmus. Karin Beier setzt also trotz tollen Ensembles auf starke Effekte, um die dramatischen Wendepunkte der Tragödie zu kennzeichnen; am Ende zeigt Lina Beckmann eine grandios verwirrte Agaue, die langsam erkennt, dass sie ihren Sohn zerfleischt hat; sie versucht die Eimer mit seinen Körperteilen immer wieder neu anzuordnen, Ordnung ins Chaos zu bringen. Der „Prolog“ und die „Bakchen“ des Euripides sind insgesamt ein grandioser, aber auch etwas unentschiedener Beginn der Serie über nicht weniger als das komplexe Verhältnis von Mensch und Natur.