Foto: Sarah Maria Sun und Boris Grappe in Arnulf Herrmanns Musiktheater "Wasser". © Regine Körner
Text:Detlef Brandenburg, am 18. Mai 2012
Am Anfang der Münchner Biennale für neues Musiktheater 2012 stand – nein, nicht die Uraufführung von Sarah Nemtsovs Musiktheater „L’Absence“, sondern ein Artikel in der _Süddeutschen Zeitung_, in dem Reinhard Brembeck dem Biennale-Leiter Peter Ruzicka bereits vor Beginn des Festivals vorwarf, dem Musiktheater das Theater auszutreiben. Journalistisch war das ein kühner Schluss von dem, was früher war, auf das, was diesmal kommen wird – in der Philosophie nennt man so etwas einen „Induktionsschluss“, und dem hat David Hume bereits vor über 250 Jahren in England den Garaus gemacht. Möglicherweise spricht sich das nach der Uraufführung von Arnulf Herrmanns Musiktheater „Wasser“ auch noch bis nach München herum. Denn Herrmann gelingt genau das, was Brembeck für einen seltenen „Sonderfall“ hält: ein Musiktheater, das aus der autonomen Struktur der Musik heraus zu großer szenischer Dringlichkeit findet.
Dieser Sonderfall allerdings ist alles andere als ein Zufall. Er ist viel mehr die Folge einer konsequenten Arbeitshaltung aller Beteiligten, die sich bis in die Organisation ihres Austauschs hinein das Ziel „Musiktheater“ setzten (vergl. dazu das Interview in der _Deutschen Bühne 5/2012_). Herrmann beispielsweise ging von Beginn an von szenischen Phantasien aus, ohne diese allerdings in eine ausformulierte „Geschichte“ einzuordnen. Dadurch verschaffte er seiner Musik ihren plastischen szenischen Gestus und behielt doch genug Freiheit, den Verlauf nach musikalischen Gesichtspunkten aufzubauen: durch die variierte Wiederholung eines in seinen musikalischen Gesten, pulsierenden Rhythmen und exoptischen Klangfarben außerordentlich sinnfälligen Materials. Für den Librettisten, den Berliner Lyriker Nico Bleutge, bedeutete dies, dass er seine Texte gleichsam in die musikalische Struktur einschreiben musste; und für die Regisseurin Florentine Klepper, dass sie sich intensiv mit Herrmanns szenischen Phantasien auseinandersetzen musste. Beide haben das mit großer Sensibilität getan – und so ist „Wasser“ auch das eindrucksvolle Dokument eines künstlerischen Arbeitsethos.
Zudem gelingt es Herrmann, die menschliche Stimme total ins musikalische Ganze zu integrieren. Da gibt es regelrechte Colla-parte-Passagen, in denen Sänger und Instrumente dieselben Töne haben. Es gibt raffinierte (teils mikrotonale) Umspielungen der Gesangsstimme, die dadurch eine Art Schatten bekommt, eine Aura. Und es gibt ein dichtes Geflecht aus Imitation und Beziehung, so dass das Orchester zu atmen und zu singen scheint und den Sängern fast instrumentale Capricen abverlangt werden. Und dann ist da diese klangliche Plastizität, die durch elektronische Finessen unterstützt wird: exotische Instrumentalfarben wie das Kontraforte (ein bassmarkig dröhnendes Kontrafagott), mit Wasser gefüllten Klangschalen; bühnenhohe Riesensaiten, die von vier Choristen gezupft werden; oder eine „eiernde“ Schallplatte, die einigen Szenen eine wabernd wegdriftende Tonalität verschafft. Überhaupt, die Tonalität: Herrmann hat keine Scheu vor ihr, er affirmiert durch harmonische Bestätigungsfloskeln immer wieder bestimmte Grundtöne, lässt das aber nie in die konventionelle Dreiklangsordnung einmünden. Vielmehr schafft er temporäre Bezugspunkte, die er ebenso leicht, wie er sie gewinnt, auch wieder verlässt.
Die Handlung, die hinter dieser hochstrukturierten, stets sinnfälligen Oberfläche nur hindurchlichtert, geht etwa so: Ein Mann, Robert, erwacht in einem Hotelzimmer. Er scheint sich selbst abhanden gekommen, ringt um seine Erinnerung und seine Identität. Eine Knabenstimme lockt ihn ins Hotelfoyer, er trifft eine Frau, Katja, mit er vielleicht einmal eine Beziehung hatte. Ein Tenor singt ein Lied, das von ihm selbst zu handeln scheint, die Frau entzieht sich zwischen Lockung und Zurückweisung. Die Eindeutigkeit einer Identität, einer „Lebensgeschichte“, will sich nicht herstellen – „Wasser“ ist die musikalische Phantasmagorie eines Ich-Verlustes. Und da des Menschen Seele spätestens seit Goethe dem Wasser gleicht, ist damit auch die Frage nach dem Titel hinreichend beantwortet.
Florentine Klepper antwortet auf diese szenisch zerrissene, musikalisch schlüssige Dramaturgie mit einer Inszenierung, die in der Kongenialität ihre Stärke und Grenze hat. Im Bühnenbild von Adriane Westerbarkey, das Anna Viebrocks minutiöse Verkommenheit ins postdramatisch Gebrochene übersetzt, in den realistischen, aber geschickt mit bestimmen Assoziations-Motiven spielenden Kostümen von Anna Sofie Tuma zeigt Klepper anfangs einen smarten Businessman, der in irgendeinem Hotelzimmer erwacht, noch benommen vom flimmernden Fernseher, ein Telefon in der Hand, das ihn aber offenbar nicht mehr mit der Außenwelt verbinden kann. Jedenfalls findet er aus dem Halbdämmer zwischen Traum und Wachsein nicht mehr heraus. Der Raum weitet sich zu einer schedderigen 60er-Jahre-Hotellobby, ein Aquarium hinten und das wabernde Licht von Frank Keller lösen die Wasser-Assoziation ein, die Video-Projektionen von Heta Multanen überlagern den Raum mit immer neuen Rätselbildern und asynchronen Zeitebenen: das singende Kind; ein seltsames Fest, das wohl irgendwann einmal in dieser Lobby stattfand; verfremdete Doppelgänger der Helden. Die finden sich auch auf der Szene: Zum Protagonisten Robert gesellt sich ein Chor-Quartett aus je zwei Tenören und Bässen, Roberts Geliebte (?) Katja erscheint als Zimmermädchen, aber auch als wasserblau glitzernde Animierdame des Hauses, Roberts Tenordoppelgänger hat seinen „Arien“-Auftritt zur eiernden Schallplatte – und so irrlichtern die Geschichten durch diese Lobby, ohne sich je zu verifizieren.
Klepper also reagiert sehr werkgerecht mit einer bröckeligen Dramaturgie auf Herrmanns narrativ durchbrochene, nur musikalisch stabilisierte Assoziationsanreize. Und sie antwortet auch auf seine szenischen Vorgaben (der Schallplattenspieler, die Riesensaiten, das Kind, der Tanz) sehr präzise. Das zeugt von hoher Verantwortung gegenüber dem uraufgeführten Werk, bringt aber streckenweise eine Art bewegten Stillstands mit sich. Spätere Inszenierungen könnten durchaus entschiedenere Schneisen durchs Vieldeutige schlagen.
Auch das musikalische Niveau hat Referenzqualität. Das _Ensemble modern_ wird hier von Hartmut Keil, Kapellmeister an der Oper Frankfurt, dem Kooperationspartner der Biennale für diese Produktion, geleitet. Und es stellt sich Herrmanns kunstvoll ausgefeilter Partitur mit ihren eigenwilligen Artikulationsarten, vierteltönigen Intonationsklippen und feinen Abstufungen der Lautstärke mit überragender Kompetenz. Dass das Chorquartett aus Mitgliedern der Schola Heidelberg dieser Musik ideal gerecht wird, ist durchaus ein Fingerzeig: In Herrmanns aus tiefer Tradition schöpfender Behandlung ihrer Vokalpartien können die vier Sänger ihre Erfahrungen mit historischen Aufführungspraxen überzeugend einbringen. Und der hell timbrierte Oratorien-Tenor von Sebastian Hübner gibt seiner Arie zur eiernden Schallplatte genau die richtige fragile Künstlichkeit. Noch mehr gilt das für Sarah Maria Sun als Katja, die in den Höhen atemberaubende Intonationssicherheit beweist. Und Boris Grappes Bariton in der Partie des Robert schließlich hat genau die seriöse Festigkeit, die hier nötig ist, um dem Werk sein vokales Zentrum zu geben.
Am Ende, nach nur 70 mit Ereignissen prall gefüllten Minuten, begeisterter Applaus.