Foto: Hans-Joachim Ketelsen (Der König), Elisabeth Wilke (Dritte Dame) und Mert Süngü (Der Rebell) in "Das geheime Königreich" an der Semperoper Dresden. © Matthias Creutziger
Text:Barbara Eckle, am 22. Oktober 2012
Ein überlebensgroßer Thron steht auf der ansonsten leeren Bühne, ausgestreckt auf seiner Sitzfläche schlummert in königlich purpurner Samtbekleidung des Königs Narr. Der zen-philosophisch angehauchte Weise stellt dem verzweifelten König, der sich der revoltierenden Meute vor dem Palast nicht mehr gewachsen fühlt, ein Rätsel, dessen Lösung ihn von seiner Ohnmacht erlösen soll: „Was ist rund und glänzt, und es ist an einem Haupte und fasst eine ganze Welt in sich. Was ist das?“ Die Aufgabenstellung erinnert ans Delphische Orakel oder die Sphinx von Theben, so simpel scheint die Antwort – doch sie liegt klassischerweise nicht da, wo der König sie vermutet. Erst zum Schluss des kurzweiligen Einakters erkennt er, dass damit nicht sein Kronreif gemeint war, sondern „das Auge eines Tieres“. Bevor der Saulus jedoch zum Paulus werden kann, bleibt ihm der obligat schmerzliche Weg der Erkenntnis nicht erspart: Während er auszieht, sich seiner Herrschaft würdig zu erweisen, hintergeht ihn seine machthungrige, frustrierte Gattin und verspricht dem attraktiven Revolutionsführer den Kronreif, den sie mit List und Verführung der Obhut des Narren entzieht und somit auch die letzten Pfeiler der alten Herrschaftsordnung zum Einstürzen bringt.
Nach eigener Aussage hat Krenek diese einfältige Geschichte von der Göttlichkeit der einfachen Kreatur an einem Punkt seines Schaffens verfasst, da er selber Erfolg und Bekanntheit erlangt hatte. Die Botschaft ist im Kern eine sehr christliche und findet im metaphorischen „Königreich“ sogar in christlicher Symbolsprache ihren Ausdruck. Entsprechend simpel und ohne fernliegende interpretatorische Ebenen setzt der Regisseur Manfred Weiß den Stoff konzeptionell um: Im zweiten Teil des Werks dekonstruieren die Revolutionäre den großen Thron, stehen bliebt ein großer Baum – eine Bildsprache so eindeutig, dass es fast weh tut. Doch wie in jedem Märchen, so schlummert selbst unter der dünnsten Oberfläche eine komplexere, dunklere Dimension, wenn sie bei Weiß auch nur ansatzweise hervortritt: In der silbern glänzenden Generalsuniform, deren Mütze den umkämpften Kronreif darstellt, tritt eine leise Andeutung an totalitäre Herrschaftsstrukturen zutage, deren Zeitzeuge und Leidtragender Krenek war. Schlamm- und erdverdreckt dagegen kriechen die Rebellen wie Gewürm über den Boden, so dass klar ist: Wie die meisten Revolten geschieht auch diese nicht ohne Grund, auch wenn man im Palast dieser Ansicht ist. Sehr viel weiter arbeitet Weiß diesen kritischen Ansatz aber nicht aus. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Figur des Königs auch in der Vorlage mit einer glimpflichen, ja sogar sympathischen Profilzeichnung davonkommt, die sie hauptsächlich jämmerlichem Defätismus und nagenden Selbstzweifeln verdankt. Die essentielle und jederzeit aktuelle Frage, ob es gerecht ist, mit einem spät einsichtigen und reuigen Unterdrücker und Verbrecher Mitgefühl zu haben, bleibt also offen im Raum stehen.
Schwarz-Weiß-Malerei gehört auf keinen Fall zu den Eigenschaften, die Ernst Krenek auszeichnen. In seiner von politisch und künstlerisch gegensätzlichen Strömungen bewegten Zeit reflektiert er die Prozesse und ihre Implikationen immer äußerst differenziert, identifiziert sich mit den verschiedenen Ansichten aber meist genau so wenig wie mit einer der einschlägigen Kompositionsschulen, die seine Zeit prägten – eine wahrhaft kritische, zugleich aber leicht missverstandene Herangehensweise. Krenek streut Dissonanzen in diesem 1928 entstandenen, vorwiegend romantischen Werk relativ dicht, doch zur freien Atonalität ist es von da ein weiter Weg.
An der stimmlich so markanten Stereotypisierung erkennt man an dieser Oper im Miniformat – perfekt für die kleine Nebenbühne der Semperoper -, dass Humor und Ernst sich in Kreneks „Das geheime Königreich“ die Waage halten sollten. Diese Balance ist in Inszenierung und musikalischer Umsetzung trefflich gelungen. Prägnant, mit Freude und zugleich Maß, arbeiten die vorwiegend dem _Jungen Ensemble Semperoper_ angehörenden Sänger unter dem Dirigenten Mihkel Kütson diese humorvoll angelegten Extreme heraus: Mit seinem hohen, kraftvollen Tenor gibt der so hitzige wie opportunistische Rebellenführer (Mert Süngü) den romantischen Helden par excellence ab; gestochen scharf wie eine geborene Koloraturzicke schmettert Norma Nahoun den Part der Königin aufs Parkett; jovial, als wäre er selbst König, Alexander Hajek als der Narr; und der zaudernde Autokrat (Hans-Joachim Ketelsen) entlarvt sich mit seinen behäbigen und wunderbar sonoren Tiefen als der planlose Herrscher, für den seine Frau ihn hält. Weiß unterstreicht diese Typisierung seinerseits noch mit ironischen Versatzstücken wie dem Brusthaartoupée des Rebellenführers oder der Nerzstola der materialistischen und geltungssüchtigen Königin, mit der er den König, nach gewonnener Erkenntnis, zynischerweise sich zudecken lässt zum Ende des Stücks.
Sinn und Zweck dieser Stereotypisierung erschließt sich erst darin wirklich, dass Krenek seinen Hauptfiguren die Gelegenheit gibt, diese zu durchbrechen: berührend der Moment, als die Stimme seiner ermordeten treulosen Gattin den König unerkannt, doch liebevoll davon abbringt, sich selbst zu richten. Hier verwandelt sich Norma Nahouns eben noch so drahtiger Klang in ein reines, weiches Schimmern. Niemand bleibt hier ganz, wer er zu sein schien. Mythos ist Wahrheit, Wirklichkeit ist Täuschung. Auch was der Befehlshaber, seine gierige Gattin und schließlich auch der Rebellenführer für Macht halten, ist eine Blase, die jederzeit platzen kann – und es auch tut. Ein Phänomen, das in all seiner märchenhaften Simplizität seine Zeitlosigkeit, wie man sehen kann, periodisch unter Beweis stellt.