Foto: 100 Menschen, 100 Songs: Das Stuttgarter Ensemble erzählt Geschichten kurz vor der Apokalypse. © Björn Klein
Text:Manfred Jahnke, am 23. Juni 2019
Viele Menschen, die auf einen Zug warten, in diesen einsteigen und… Menschen, die der Zufall zusammengeführt hat und die alle eine Geschichte haben – und alle einen eigenen Song im Ohr und auf den Lippen. Wie in seinen anderen Stücken komponiert der Dramatiker Roland Schimmelpfennig in „100 Songs“, als Auftragsarbeit für das Örebro Länsteater 2017 entstanden, viele einzelne Schnipsel zu einem rhythmisch geführten Gefüge. Er entwickelt dabei keine linearen Handlungsstränge, sondern springt in den Zeiten hin und her. Das Stück spielt in einem Zeitraum von vier Minuten und vier Sekunden, wenn auch in den einzelnen Geschichten die Ereignisse in der Nacht zuvor und am Morgen miterzählt werden. Es beginnt um 8.51 Uhr, der Zug fährt um 8.52 ein und um 8.55 geht er bei der Anfahrt in Flammen auf. Gestützt wird die Zeitebene von zwei Songs, die im Radio laufen, „Don‘t dream, it‘s over“ von Crowded House und Kim Carnes‘ „Bette Davies Eyes“.
Schimmelpfennig springt innerhalb dieses Zeitrahmens hin und her, die Uhrzeit wird stets angesagt. Leitmotivisch wird dabei von der Kellnerin des Bahnhofcafés jeweils eine Tasse fallengelassen, deren Scherben auf den Boden liegen bleiben und die Spielfläche zumüllen, wie andere Requisiten und Kostümteile auch. Zumindest in der deutschsprachigen Erstaufführung am Schauspiel Stuttgart, die Schimmelpfennig als Regisseur und Bühnenbildner in Szene setzte. Vor einer schwarzen Wand, die der Bühne die Tiefe wegnimmt, stehen sechs schwarze Stühle, um die alle Requisiten des Spiels angeordnet sind. Vor der Wand hängt eine Garderobenleiste mit den Kostümen. Die Spielfläche wird von Leuchtleisten begrenzt, an drei Ecken steht jeweils ein Mikrofon, rechts hinten ein Harmonium. Ausgeleuchtet wird die Szene hauptsächlich von jeweils zwei Reihen Scheinwerferbatterien, wenig kommt von vorne (Licht: Stefan Schmidt).
Neben den fallenden Tassen und dem Lieblingssong der Kellnerin („Bette Davies Eyes“), der Katharina Hauter anrührende Züge gibt, zeigen der intensive Einsatz von Bühnennebel und ein aufflammendes Streichholz in der Hand von Sebastian Röhrle im Halbdunkel der Bühne die Uhrzeit 8.55 Uhr an. Zum Ende hin schüttet Robert Rožić rote Flüssigkeit in die Gesichter seiner Mitdarstellenden. Aber nicht nur das Spiel mit der Zeit kennzeichnet die Dramaturgie Schimmelpfennigs, sondern ebenso, dass es mit Ausnahme der Kellnerin keine festgelegten Rollen gibt. Diese wechseln im Ensemble, wobei Alters- und Genderzuschreibungen bedeutungslos sind. So spielt zum Beispiel Reinhard Mahlberg, ein Mann um die 60 Jahre, ein 17jähriges Mädchen, das Friseurin werden will und Songs der Pixies hört, ein Greis hingegen wird von allen einmal vorgestellt. Darüber hinaus perfektioniert Schimmelpfennig in „100 Songs“ seine auktoriale Erzähltechnik: Eine Handlung wird von einer Person erzählt und dann von einem anderen ausgespielt. Was man einst „illustrativ“ nannte, wird hier zur Kunstform erhoben.
Aber dem Autor reichen die vielen Geschichten von Menschen noch nicht, die um (scheiternde) Liebe im Alltag kreisen, ebenso wenig die zeitliche Rahmung. Er nutzt ein weiteres mythologisches Motiv, das sich mit Pferden verbindet: zunächst Sleipnir, Odins Pferd mit acht Beinen, die, wo sie den Boden berühren, alles zerstören, oder Al-Buraq, das geflügelte Pferd Mohammeds, schließlich die vier Reiter in den Wolken, die unter anderem den heiligen Geist verkörpern. An Symbolik, die den Ritt in die Apokalypse anzeigt, fehlt es nicht. Die Wendung ins Komische auch nicht, wenn Alexandra von Schwerin in der Rolle als Stripperin ein geflügeltes Pferd aus Plastik zeigt, das sie ihrem Sohn zum Geburtstag schenken will.
Mit großer, anarchischer Lust spielt das Ensemble auf, zu dem noch Anne-Marie Lux gehört, die vorwiegend schwarz trägt (Kostüme: Lane Schäfer unter Mitarbeit von Verena Salome Bisle). Das Ensemble kann alles: von der tragischen Pointe bis hin zur Karikatur. Und 100 Songs? Die „Playlist“ im Programmheft zählt 26 Titel auf, von Bachs „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ bis „Something stupid“, von „San Francisco“ bis Deep Purples „Smoke on the water“, letzterer einer der wenigen Titel, der eingespielt wird. Ansonsten werden die Songs zumeist gekonnt a capella vom Ensemble gesungen. Da die meisten Titel berühmte Songs aus 1970er, 1980er Jahren waren, sang das Publikum Zeilen leise mit. Bei Szenen, die atmosphärisch gerahmt werden (Komposition: Hannes Gwisdek), machen die Spielenden selbst die Instrumentierung, mal mit Harmonium, von Katharina Hauter bedient, oft mit Klangschalen und Glöckchenspielen. Entstanden ist so ein unterhaltsames, aus Puzzleteilen zusammengesetztes Panoptikum im Angesicht der Apokalypse.