Wie ist es also darum heute bestellt? In Gelsenkirchen? 80 Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und sozialer Schicht hat das Theater nach Glauben, Messias und Erlösung befragt, darunter naturgemäß viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Theaters. Ihre Video-Statements werden vor der Aufführung und in der Pause gezeigt und grundieren die Aufführung auch inhaltlich.
Integrationsprozess und Weihnachtsfest
Drei zweidimensionale Traversengestelle strukturieren die Bühne wie Kulissenrahmen. Im ansonsten leeren Raum erzählt Michael Schulz mit Text und Musik des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach die Geschichte einer erfolgreichen Integration. Der Evangelist ist der Initiator und Manager dieses gesellschaftlichen Prozesses. Maria und Josef sind hier auf der von Renée Listerdahl mit individuellen und phantasievollen Kostümen bebilderten Gegenwartsebene ein paar fremde (oder geflüchtete oder heimatlose) Menschen, die auf eine halbwegs intakte Sozialgemeinschaft treffen. Am Anfang begegnet man ihnen mehrheitlich mit Unverständnis, am Ende lädt man sie ein, dazuzugehören.
Zusätzlich verwendet die Inszenierung das Weihnachtsfest als Bildspender und Gegenstand an sich: Dekoration und Konsumrausch, Gemütlichkeit, Sehnsucht nach Harmonie und Spiritualität. Und Schulz beschießt Bach mit Fremdtexten und -musiken, um die schlichte dramaturgische Struktur einerseits aufzubrechen, andererseits hervorzuheben. Mit zwei Liedern von Brecht und Eisler („Das Lied von der Moldau“, „Lied einer proletarischen Mutter“) artikuliert etwa die junge Fremde Ansprüche und Ängste des Individuums. Aus den Hexenszenen aus Carl Orffs Weihnachtsspiel „Ludus de infante mirificus“ und zwei Szenen aus Dario Fos „Mistero Buffo“ schafft Schulz nicht nur Spielräume für das Puppenspiel sondern generiert auch eine Art Volkstheaterebene, einen zeitweiligen Ausstieg aus der meditativen und doch apollinisch klaren Innigkeit des Weihnachtsoratoriums.
Dabei können die fünf Spielerinnen und Spieler sich auch als Schauspieler profilieren, etwa im mundartlichen Hexengeschrei zu Beginn. Später ist es wunderbar zu erleben, wie Daniel Jeroma sich mithilfe eines Stuhls, eines Tuches, eines Stabs und eines Totenkopfes in den machtgierigen Papst Bonifazius VIII. verwandelt, der dem gekreuzigten Jesus nicht begegnen mag, weil er die dafür notwendige Demut nicht im Repertoire hat. Die andere Szene, der bethlehemitische Kindermord, beginnt mit einem Puppen-Herodes im blauen Glitzeranzug. Die ihm zuhörenden Weisen aus dem Morgenland sind durch auf der Bühne sekundenschnell zu riesigen Gesichtern zusammengefügte Holzstücke präsent. Daran schließt sich ein Dialog zweier Soldaten an, von denen einer den Kindermord nach Befehl nicht mehr ertragen kann und von dem anderen getötet wird; und der – masken- und puppenlose – sehr intensive Monolog einer jungen Frau (Gloria Iberl-Thieme), die durch den Verlust ihres Kindes den Verstand verloren hat und ein Lamm für ihr überlebendes Kind hält, wovon sie Maria erzählt. Alle drei Szenen scheinen die Stadttheaterbühne zu sprengen und nach Dorfplatz zu schreien, nach einem nicht intellektuell oder politisch gesteuerten Gemeinschaftsort, wo schlichtes Erleben möglich ist.
Die dritte Art von Interpolationen schließlich betrifft die Zurücknahme ins Innere als Ruhe- und Höhepunkt des Spiels durch Ensemblegesang. „The Deer’s Cry“, ein a-cappella-Stück von Arvo Pärt gelingt musikalisch hinreißend, bleibt aber dramaturgisch spekulativ, während „Gute Nacht, o Wesen“ aus Bachs „Jesu, meine Freude“ in einer Fassung für Solistenquintett, tatsächlich zum Wende- und Höhepunkt des zweiten Teils gerät.
Authentische Sehnsucht
Hauptkriterium des ungewöhnlichen Abends ist die Sehnsucht, die Suche, das Bestreben nach Gemeinschaftlichkeit. Diese wirkt nie aufgesetzt und lässt sich an etlichen Kriterien ablesen. So singen die Solistinnen und Solisten die Chorpartien mit und ordnen sich beim Schlussapplaus in die Chorus Line ein. Und es gibt, eine große Leistung des dirigierenden Chorleiters Alexander Eberle, ganz offensichtlich eine gemeinsame Linie der musikalischen Interpretation. Hier steht die Wortdeutlichkeit, die klare Diktion, der individuelle Klang eindeutig im Vordergrund. So folgt man Adam Temple-Smith als Evangelist gerne, auch wenn die Stimme in der Höhe zittrig wird. Man versteht seine Worte, man glaubt seinem Gesang. Gleiches gilt für Bele Kumbergers Interpretation der Eisler-Lieder. Trotz Sopranhöhen braucht das Publikum keine Übertitel. Und die bekannt schöne Stimme wird hier gleichsam ungeschminkt geführt. Kein Schönklang nivelliert die kantige Botschaft.
Natürlich gibt es immer individuelle Unterschiede, genießt man beim Chor etwa die strahlenden Sopranlinien und kann sich dagegen die gleichfalls hochengagiert zuwerke gehenden Männerstimmen durchaus ein wenig elastischer vorstellen. Bei den Solisten gräbt sich die gestalterische Autorität der langjährigen Ensemblemitglieder Almuth Herbst und Urban Malmberg genauso ein wie der makellos gerundete Sopran von Dongmin Lee und Enthusiasmus und Timbre des jungen Countertenors Etienne Walch aus dem Opernstudio NRW. Und die Neue Philharmonie Westfalen erfreut ohne wenn und aber. Aus dem Graben tönt ein schlanker, elastischer, sogar recht farbenreicher Bach mit dynamischen Streichern und fast virtuos entspannten Bläsern (Flöten! Trompeten!!).
Nicht verschwiegen werden soll, dass es in der knapp dreistündigen Aufführung Momente gibt, in denen der Regisseur seinem Konzept nicht mehr zu vertrauen, in denen ihm seine sanfte, mit behutsamer Gesellschaftskritik unterfütterte Utopie, seine Dramaturgie der Andeutungen und Atmosphären nicht mehr auszureichen scheint. Dann versucht er zu konkretisieren und zu erklären. Dann müssen die Choristinnen und Choristen auf die Dario-Fo-Szenen gestellt reagieren, um den oben angesprochenen Dorfplatz-Charakter zu vermitteln. Was unnötig ist. Und das Geschenk, um das das Puppenmädchen und der Puppenjunge unterm Weihnachtsbaum rangeln, ist ausgerechnet eine Faustfeuerwaffe, die dann sogar zu einer tödlichen Verletzung führt. Das ist ärgerlich, denn hier geraten wir in den bekannten Regietheater-Bereich der eins-zu-eins-Symbolik, der dem Publikum das Denken abnimmt – und das hat dieser ansonsten sehr kluge Abend gewiss nicht nötig.
Diese Ausritte bleiben aber lässliche Sünden. Denn das Publikum fühlt sich gemeint und empathisch angesprochen, was die Reaktion am Schluss deutlich erkennen lässt. Und vielmehr kann man ja nicht wollen, wenn man Theater macht für seine Stadt. Außer vielleicht, dass viele Menschen kommen, was „Jauchzet, Frohlocket!“ eindeutig zu wünschen ist.