Text:Dieter Stoll, am 1. Dezember 2019
Ein sprachloser, bis zum Verschwinden rätselhaft bleibender fränkischer Findling von 1828, ein Theatertext-Roulette von 1968 über die Macht der Manipulation im Sprachgebrauch, ein Literaturnobelpreis von 2019 mit Widerspruch-Reflex von vielen Seiten. Diese Aufführung ist von tiefen Spuren umstellt, aber eine flache ist auch dabei. Aus dem ersten erkennbaren Bild der Vorstellung, wenn sie noch gar nicht begonnen hat und den Zuschauer beim Einnehmen der Sitzplätze überfällt, lässt sich saure Wahrheit wie Zitronensaft pressen. „Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“, steht als Info-Projektion auf dem Eisernen Vorhang, und darunter ist die prominente Club-Elf von damals namentlich aufgeführt. Sonst nichts. Der junge Peter Handke, noch im Bann der konkreten Poesie etwas entfernt von der ausführlicheren „Angst des Tormanns beim Elfmeter“, veröffentlichte die sachdienliche Mitteilung keineswegs als Teil seines von ihm selber gern auch „Sprechfolterung“ genannten Stückes „Kaspar“ aus dem gleichen legendären Reform-Jahrgang; stattdessen aber als rätselhafte Gedicht-Behauptung, deren Hintersinn-Suche so manchen Literaturkritiker über Jahrzehnte in Zweifel stürzen sollte. Bei der neuesten „Kaspar“-Produktion auf großer Bühne im Nürnberger Schauspielhaus steckte arglosen Premierenbesuchern, die das grübelnd lasen, die aktuelle Niederlage ihrer geliebten, wenn auch nicht mehr so arg „ruhmreichen“ Stadt-Mannschaft noch vom Nachmittag in den Knochen. Das konnte ja heiter werden. Wurde es auch, aber nicht nur!
Zwei Herren im weißen Therapeutenanzug drücken einen stammelnden Patienten in schlabbernder Unterhose und figurenpressendem Teil-Korsett mit aller Gewalt an die Wand. „Komm, jetzt sag mal was!“, höhnen sie – aber er will eigentlich nur „ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“. Sein einziger mitgebrachter Merksatz, an dem er in der Abwarteschleife klammert, bis ihn die herrschenden Machthaber der Wortgewalt unsanft an den Kanten ihrer Sprache wundgestoßen haben, lädt zum Nachäffen ein. Der offiziöse Zivilisierungsprozess steht als unheimliches Foltermodell der Anpassung zur Diskussion. Kaspar schaut langsam und lernt schnell, sieht Biedermeier-Autoritäten mit Zylinder entlang an Worten, Sätzen und Buchstaben rempeln. Er bestaunt im Zeitsprung die bellende Weisheit vom Pädagogen-Pult, erlebt das hilflos lärmende „Das ist nicht wahr!“ der protestbewegten Zwischenrufer und landet mit Klatschmarsch in der Disco, wo das große Ego als innenarchitektonische ICH-Installation aus Glühbirnchen den Showdown ankündigt. Zuvor ist noch Autogrammstunde für „Die Unvernünftigen sterben aus“ mit dem imagemäßig scheu dreinblickenden Dichter höchstselbst, der – man muss ihn beim Wort nehmen, dachten die Interpreten – laut Selbsteinschätzung „von Tolstoi, Homer und Cervantes“ kommt, aber als Verehrer serbischer Nationalisten vor allem „nicht nach Bosnien fährt“. Ein freier Mensch, frei in der Wahl seiner eingeschränkten Blickwinkel. „Gerechtigkeit für Serbien“, tönt dieser Künstler, der unter den Medien nur dem serbischen Staatsfernsehen vertraut. „In gut zwanzig Jahren kriegste den Nobelpreis“, tröstet ihn eine Traumfigur. Die Satire frisst auch ihre größten Kinder.
Als Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger für die Stabilisierung seiner zweiten Nürnberger Saison ins eigene Erfolgs-Archiv griff und das weiterentwickelte Remake einer sechs Jahre zurückliegenden Mainzer Produktion von Peter Handkes frühem Stück „Kaspar“ ansetzte, war von Nobelpreisverleihung und den dadurch wieder ins öffentliche Bewusstsein schwappenden Kontroversen um die seltsame Dichterliebe zu einem offiziell verurteilten Kriegsverbrecher noch nichts zu ahnen. Gloger wollte einfach, wie er schon eine Saison vorher Eugène Ionesco demonstrativ an den Beginn seiner Amtszeit gesetzt hatte, die Wiedervorlage einstiger Bühnenstürmer im Verehrungs-Test weiterführen und dazu womöglich etwas Kulissenschiebung für die Lokalgeschichte versuchen. Eine „Reise durch die deutsche Geschichte“ konnte er sich in diesem Rahmen sogar vorstellen. Da kam die Aktualität dazwischen. Und, man kann es nicht anders sagen, der Regisseur hat mit vollem Risiko reagiert, die Tür für sein Konzept für kräftige Windstöße geöffnet und die Akzente seiner Inszenierung energisch verschoben. Über Kaspar Hauser, den Selbstauflöser, erfährt der Zuschauer dabei nicht mehr als sonst, über Peter Handke, den Wortbetrunkenen, aber ziemlich viel. Es ist eine Aufführung mit Witz und Biss und Haltung, bestens geeignet für eine weitere Runde an Kontroversen.
Die drei Spielfiguren, die in gleitendem Wechsel die Rollenangebote greifen (großartige Komödianten mit ätzender Tiefenschärfe: Janning Kahnert, Felix Mühlen, Maximilian Pulst), schwärmen in Judith Oswalds süffisant modellierten Bühnenräumen solistisch aus, werden vereinigt zur Dichter-Dreifaltigkeit, sind attackierende Ein- oder Neinsager und bäumen sich auf zu personifizierten Multiplikationen schemenhafter Eindrücke. Ihre Sprachartistik, die zirkusreif an morschen Begriffen emporschwingt, ist das Kontrastprogramm zu den frisch gepflückten Zitaten, mit denen der Regisseur den Dichter gnadenlos an seinem Werk misst. Der adaptierte O-Ton bodenständiger Trotz-Interviews jüngster Vergangenheit unterminiert die abgehobene Poesie des zeitlosen Kunstwerks, ohne es zu beschädigen. In den Welten, die dazwischen liegen, kann man noch so manchen Spielplan entwickeln.
Am Nachmittag nach der Club-Niederlage im Max-Morlock-Stadion gab es am Samstag ein Pfeifkonzert, am Abend beim Theater-Sieg im Schauspielhaus am Richard-Wagner-Platz dagegen einhelligen Beifall.