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Der Wahnsinn lauert überall

Edison Denisov: Der Schaum der Tage

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:01.12.2012Autor(in) der Vorlage:Boris VianRegie:Jossi Wieler, Sergio MorabitoMusikalische Leitung:Sylvain Cambreling

Eine Literatur-Oper ist eigentlich nichts Besonderes in der Sparte Moderne. Edison Denisovs „Der Schaum der Tage“ nach dem gleichnamigen Kultroman von Boris Vian („L’écume des jours“) aus dem Jahr 1946 aber schon. Der 1929 in Sibirien geborene und 1996 in Paris gestorbene russische Komponist hat sie 1981 komponiert. Quasi privat und ohne die selbstzensierenden Rücksichten, die eine Aufführung in der Sowjetunion möglich gemacht hätten. Die Uraufführung dieses sowohl typisch russischen als auch unverkennbar französischen Dreiakters aus 14 Bildern und 7 Intermezzi fand denn auch 1986 in der Pariser Opéra-comique statt. In Deutschland war sie 1991 das erste Mal in Gelsenkirchen zu sehen. Die Rarität ist aber im Grunde immer noch nahezu unbekannt. Ob sich das nach der jüngsten Premiere ändert?

Die surreal mäandernde Geschichte fängt zunächst mit zwei Bohème-Paaren in einem Paris an, in dem der Philosoph Jean-Sol Partre, also kein Geringerer als Sartre, der Star ist: eine fast schon boulevardesk heitere La-Bohème-Variation unter Luxusbedingungen, bei der der Bohèmien Colin immerhin einen Koch und ein wundersames, Cocktails produzierendes Klavier sein eigen nennt. Ein dunkel furnierter Raum mit üppigem Oberlicht und (projizierten) Fenstern weitet sich von Zeit zu Zeit nach hinten in eine Art Nobelwartesaal. Diese surreal durchschossene Lebenskünstler-Wirklichkeit kippt unversehens ins Lebenstragische, als der sanften, wie ein Duke-Ellington-Foxtrott benannten Chloé (Rebecca von Lipinski) eine „Seerose“ in der Lunge wächst, die man offenbar nur durch andere Blumen bekämpfen kann. Colin, ihr frisch angetrauter Gatte, führt diesen Kampf, und Ed Lyon füllt diese zentrale Partie mit smartem Charme und der Fähigkeit zum Leiden imponierend aus. Bald muss er, um Geld zu verdienen, den absurden Job annehmen, mit seiner Körperwärme das Wachstum von Waffen zu befördern. Was aber in dieser Welt auch nicht mehr verwundert, gehört doch zu seinem Haushalt auch eine sprechende und auch sonst sehr einfühlsame Maus, die am Ende Selbstmord begeht, indem sie ihren Kopf freiwillig in ein Katzenmaul steckt, weil sie nicht mit ansehen kann, wie Colin am nicht zu verhindernden Tod von Chloé leidet.

Colins Freund Chick (Daniel Kluge) wird seine obsessive Vorliebe für Patre–Bücher zum Verhängnis. Erst vernachlässigt er dafür seine Freundin Alise (Sophie Marilley), dann wird er von einer Schutztruppe, die „nur“ wegen einer Steuerprüfung bei ihm eindringt, tot geprügelt. Als seine Freundin Alise dann in einem Rachfeldzug alle Buchläden abfackelt, geht sie dabei selbst mit in Flammen auf. Am Ende überlebt nur Colin, wobei das bei seinem Zustand stark übertrieben ist.

Die emotionale Tonlage, der sich souverän und ohne dogmatische Einschränkung zwischen Kammermusik und Musicalsound, Chanson und Jazz, leichfüßigem Parlandoton und düsterem Orchesterraunen bewegt, ist da längst auf einer atemberaubenden Achterbahn auf den Abgrund zugefahren. Sie hat dabei Kirchengesänge aufgeboten, während ein Jesus seine Hände in Unschuld wäscht und seine Wundmale doch nicht wegbekommt. Das Orchester hat mit wuchtigen Tuttischlägen an die Pforten der Hölle gedonnert und dann doch wieder zarte, poetische Trauertöne angeschlagen. Denisovs Musik ist ein geradezu exemplarisches Beispiel dafür, wie ein Schostakowitsch-Erbe eigene Wege eingeschlagen hat. Auch in Richtung der westlichen Moderne, deren Dogmen sie sich ebenso souverän verweigert wie den kulturpolitischen Forderungen in seiner Heimat.

In der Stuttgarter Oper ist so ein ambitioniertes Ausgrabungsunternehmen natürlich Chefsache. Jossi Wieler und Sergio Morabito haben zusammen mit Jens Kilian (Bühne), Anja Rabes (Kostüme) und Chris Kondek (Video) mit bewährtem ästhetischem Scharfsinn und präziser Personenführung inszeniert. Bei ihnen bricht die Oberfläche einer nachvollziehbar realistischen Welt immer wieder auf und offenbart den nur eine Handbreit dahinter liegenden Wahnsinn, das Absurde, das Abgründige, das sich am Ende durchsetzt. Am Pult des Staatsorchesters stand der neue GMD Sylvain Cambreling. Mit spürbarer Hingabe belegte er seinen Ruf, ein Spezialist für die Moderne zu sein. Wobei er der Inszenierung folgt, die weniger auf das grell Bunte der Geschichte setzt, sondern auf die Wirkung der dunklen Seiten, in denen Wagners Tristan-Musik, Debussys Pelléas-Düsternis herüber leuchten und Kafka den Fremdenführer durch die Alptraumwelten gibt. Zum Glück haben weder Wieler noch Cambreling dieses Werk wie einen exotischen Schmetterling aufgespießt oder zu einer schrillen Revue gemacht, sondern ernst genommen und fliegen lassen. Und wir sehen und hören stauend zu! Begeisterter Jubel in Stuttgart.