Foto: Szene aus "Das Mädchen mit dem Fingerhut" © Arno_Declair
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 21. Mai 2017
Alexander Riemenschneider inszeniert „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, als Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Deutschen Theater Berlin.
Aufsicht und Untersicht fallen zusammen. Die schwarze Rückwand auf der handtuchtiefen Bühne ist übersät mit hellen Punkten. Der Blick fällt ins unermesslich weite Weltall. Ist das der sternüberwölbte Himmel der Heimat oder steht er für die Sehnsucht nach der Ferne? Zugleich wird damit das Panorama der Erde bei Nacht entfaltet. Lichtpunkte gesehen aus dem Orbit, von Fremden oder Außerirdischen. Die Bühne in der Halle König Ludwig in Recklinghausen (Ausstattung: Juliane Grebin) wird bevölkert mit einem Musiker und zwei Schauspielern in hellbeigefarbener einfacher Kleidung, die Gesichter weiß geschminkt, die Lippen (nicht die Wangen) rot, die Füße nackt. Fremde in einem fremden Land. Die Japanassoziation, die die Fotos suggerieren, lösen sich auf der Bühne nicht ein. Mehr Kraftwerk als Asien.
Michael Köhlmeiers Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, den Alexander Riemenschneider für die Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Deutschen Theater dramatisiert hat, ist auf den ersten Blick kaum bühnentauglich. Kaum Dialoge, die Stummheit der Hauptfigur, die Lakonie der Sprache. Das sechsjährige Mädchen Yiza taucht irgendwo in einer winterlichen westeuropäischen Stadt auf, wird von einem Mann, den sie Onkel nennt, in einen Laden geschickt und erhält etwas zu essen. Immer wieder. Irgendwann ist der Onkel verschwunden, das Mädchen findet Unterschlupf in einem Container , wärmt sich in einem Café auf und wird schließlich ins Heim gesteckt. Thorsten Hierse rollt mit seinem hohen Bariton fürsorglich den Textteppich aus; er beugt sich herab, dreht den Kopf, lässt einen wärmenden Mantel erscheinen, legt betend die Hände zusammen – während neben ihm Kotti Yun beobachtend auf der Hut ist. Es dauert, bis sie den Erzähler anblickt. Doch dann legt er, ganz wärmender Schutz des Containers, die Arme um sie, hüllt sie ein; sie schmiegt den Kopf an ihn: Der sprachmächtige Erzähler hat die Sprachlose aufgenommen – und zwar genau dort, wo der Abfall der Zivilisation sich sammelt.
Köhlmeiers Roman ist 2016 erschienen. Die Assoziation zu den Flüchtenden lag also auf der Hand. Doch Referenzpunkt für den Text ist, so der Autor, eher das Phänomen der Wolfskinder. Also weniger Andersens Schwefelholz-Märchen, als Agota Kritofs Roman „Das große Heft“. Im Heim trifft Yiza auf die beiden Jungen Schamhan und Arian. Sie flüchten gemeinsam, brechen in ein Haus ein, schlagen sich den Bauch voll und versorgen sich mit dem Notwendigsten – bis sie von der Polizei geschnappt werden. Kotti Yun übernimmt nun plötzlich die Rolle des zielgerichteten Schamhan, während Thorsten Hierse den zögerlichen Arian. Sie ducken sich, schlingen schlotternd die Arme um sich, wenden sich ängstlich ab. Alexander Riemenschneider unterlegt dem Abend eine Bewegungspartitur, die zwischen Tanz, Pantomime und Illustration changiert. Bewegung gewinnt den Rang einer selbständigen Sprache, die der Verständigung, der Akkulturation, aber auch der Überwältigung dient.
Wenn das Trio im Haus duscht, isst, mit Puppen spielt, tollen Kotti Yun und Thorsten Hierse enthemmt-tänzerisch über die Bühne als Moment größten Glück. Wenn das kleine Mädchen dagegen von einer Schwester im Heim gebadet wird oder später von einer älteren einsamen Frau gesund gepflegt, geschlagen und einem Sprachunterricht unterworfen wird, ähnelt das auf der Bühne einem harschen körperlichen Übergriff, der mit Verweigerung beantwortet wird. Tobias Vethake unterlegt diese wechselnden Aggregatszustände der Fremdheit mit dem zirpenden, gezupten, oder auch mal brüllenden Sound seines elektronischen Cellos. Am Ende ist die fürsorglich-bevormundende ältere Frau tot, ein blutendes Fleischbündel – die Münder öffnen sich zum stummen Schrei. Doch nur kurz, am Ende findet Yiza Zuflucht bei einer „Horde von Zerlumpten“.
Kein zivilisatorisches Happyend also für die empathische Bürgerseele. Die Regie hält zwar Abstand zu jeder Form von Realismus, breitet den Text eher aus, als ihn szenisch zu vergegenwärtigt – doch er bleibt letztlich zweifelhaft, ob Köhlmeiers lakonisch verknappte Erzählung wirklich bühnentauglich ist oder sich nicht doch eher der Dramatisierung verweigert.