Foto: I Chiao Shih, An De Ridder, Markus Francke und der Opernchor © Jochen Klenk
Text:Joachim Lange, am 16. Dezember 2022
An Richard Wagners „Tristan und Isolde“ kommt niemand vorbei. Dieser Orchesterrausch und dieser Strom der Leidenschaften hatte und hat immer noch etwas Umstürzendes. Ein Non-plus-ultra-Werk, dem sich der Wagnerianer hingibt und das seine Gegner… na was auch immer. Das ist seit der Uraufführung 1865 so. An Charles Tournemires (1870-1939) Variante der Tristan-Legende ist die Opernwelt bislang ganz gut vorbeigekommen. Schon, weil die 1926 fertiggestellte „La légende de Tristan “(im Unterschied zu Frank Martins „Le vin herbé“ aus dem Jahre 1942 etwa) noch nie aufgeführt wurde. Mag sein, dass es auch an dem Tournemire nachgesagten unangenehmen Charakter lag, der so eben nur noch Spezialisten vor allem als virtuoser Organist bekannt ist.
Das Theater Ulm und sein regieführender Intendant Kay Metzger haben sich jetzt daran gemacht, das zu ändern. Die charakterlichen Schattenseiten sind verjährt (bei Wagner spielten die ja nie eine Rolle) und so erwirbt sich das Theater in Ulm Ausgrabungsverdienste abseits eines immer enger werdenden Kernrepertoires und nutzt (wie auch andere kleine Häuser) die Chance, damit einen Hingucker zu landen.
Raffinierte Orchesterpassagen
Vor allem ist es ein Hinhörer geworden. Tournemires Klangsprache ist von vielen Quellen inspirieren, vor allem vom Klang der Sprache. Insofern typisch französisch. Er bietet komponiertes Parlando, bei dem es ihm wohl um jedes Wort des Librettos von Albert Pauphilet geht. Mit eigenständiger Originalität beeindrucken vor allem die mit einigem Orchesteraufwand geradezu cineastisch erzählenden und aufwühlenden fünf Zwischenspiele, die die acht Bilder des Dreiakters immer wieder unterbrechen und das Geschehen jeweils zusammenfassen oder dräuend ankündigen. Wenn für diese Zwischenspiele der Vorhang geschlossen ist, lohnt ausnahmsweise auch mal der Blick nach hinten, auf den großen Bildschirm an der Rangbrüstung, der den GMD des Hauses Felix Bender bei der Arbeit zeigt. Seine präzise Zeichengebung und den inspirierend konzentrierten Körpereinsatz übersetzen die Musiker des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm mit hörbarer Präzision. Sie liefern den beeindruckendsten Teil des Premierenabends (der auch vom Rundfunk aufgezeichnet wurde). Dabei wechseln raffiniert ausgeführte Orchesterpassagen mit virtuosen instrumentalen Soli ab. Bei denen vermeint man dann sogar einmal, auch das Leiden des anderen Tristan durchzuhören. Es gehört zu den bleibenden Eindrücken dieser Uraufführung, dass Tournemire keinen französischen Über-Wagner a la Debussy im Sinne hatte, sondern mit der eigenständig anders erzählten Geschichte wohl auch eine dezidiert andere, zeitgenössischere Musik. Und die verdient allemal eine Aufführung, wenn man denn nicht eine Revolte gegen die Dominanz von Wagners „Tristan“ erwartet.
Der Plot (mit dem Anspruch, Nachvollziehbareres zu bieten) lässt sich am einfachsten über die Abweichung von Wagners Dichtung skizzieren: Isolde liebt Tristan von Anfang an; er hat gerade (ihren Onkel) Morholt und den jungfrauenfressenden Drachen erschlagen und bekommt als Belohnung Iseut, also Isolde. Die ist schockiert, weil er sie nicht für sich, sondern für König Marc mit sich nimmt. So richtig zu verstehen ist das auch nicht. Die beiden trinken aus Versehen von dem Liebestrank (auf Liebe und Tod) mit dem Brangien (also Brangäne) eigentlich das Eheglück von Iseut und Marc sichern wollte. Aber die behält den Irrtum für sich. Und so taumelt vor allem Tristan in sein Unglück. Ein Coup ist die Szene, in der der König ein Stelldichein der beiden belauscht, die das aber rechtzeitig bemerkt hatten und ihm die loyale Ehefrau und den durch königliches Misstrauen geknickten Freund vorspielen. Hier wechseln die beiden in eine Art von Fake-Parlando. Der König lässt sich noch einmal täuschen, als er die beiden bei ihrem Fluchtversuch in Armut und zweisame Einsamkeit aufspürt, aber sich nicht rächt, sondern nur Zeichen seiner Anwesenheit hinterlässt. Bei Tristan löst das immerhin solche Gewissensbisse aus, dass er Iseut zurück in ihr königliches Leben schickt. Den letzten Auftritt vor seinem Tod hat Tristan, wenn er als Narr an den Hof kommt und Iseut nochmal aus der Fassung bringt. Klar, dass es für diese Art von Weltflucht ein Orchester-Donnerwetter sondergleichen gibt.
Mythischer Wald, dräuend wogendes Meer
Kai Metzger (Regie) und Michael Heinrich (Ausstattung) haben die Geschichte aus mythischem Wald, Drachenhöhle oder Schmerzensfelsen in ein opulentes großbürgerliches Salon-Ambiente verlegt. Mit viel uniformierten Statisten und Meerblick. Erst wogt es dräuend, dann wieder entfernt sich das Wasser wie bei einem Blick vom Heck auf hoher See. Auch flackern verschwommene Kriegsbilder über das Einheitsbühnenbild. Die einsame Waldhütte mutiert zu einer schäbigen Bleibe für das Liebespaar auf der Flucht. Die Ambition, ein nachvollziehbares Geschehen zu zeigen, kommt sich in dem oft recht statisch gefüllten Einheitsbühnenbild gelegentlich selbst ins Gehege. Gesungen wird ordentlich. An de Ridder ist eine geschmeidige Iseut, Markus Francke bewältigt vor allem die Klangrede seine Riesenpartie hochrespektabel. Mit markanter Durchschlagskraft imponieren Dae-Hee Shin als König Marc und I Chiao Shih als Brangien. Joshua Spink schließlich ist als Frocin der intrigante, Wagners Melot ähnliche Fiesling im Stück. Der von Hendrik Haas und Nikolaus Henseler einstudierte Chor imponiert mit seinen tragenden Beiträgen.
Am Ende wurde in Ulm eine vor allem musikalisch lohnende Ausgrabung bejubelt. Daran, dass Wagner das musikalisch entscheidende zum Thema Tristan hinterlassen hat, ändert diese so verdienstvolle wie gelungene Produktion freilich nichts.