Foto: Gregor Zölligs "Peer Gynt" am Theater Bielefeld © Bettina Stöß
Text:Bettina Weber, am 20. Oktober 2014
In den zwiebelartigen Schichten von Henrik Ibsens Peer Gynt wird bekanntermaßen manche Parallele zu anderen dramatischen Figuren erkennbar: Deutlich ist die verführbare, faustische Facette, aber er ist auch selbst ein Verführer, ein Don Juan. Und natürlich hängen in den Zeilen des dramatischen Gedichts „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen – literarische Vorlage für die gleichnamige Choreographie Gregor Zölligs am Theater Bielefeld – dazu jede Menge Erzählmomente, die die Hauptfigur auf der Selbstsuche umgeben. Die Kritik an der norwegischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts oder die Angst vorm schwedischen Kriegsgegner beispielsweise stehen im Kontext der Entstehungszeit der Vorlage. Doch Gregor Zöllig geht es nicht ums Nacherzählen des Historischen, wenngleich die rund 100-minütige Choreographie sich abgesehen von einigen Kürzungen recht linear an der Geschichte entlang bewegt. Zöllig konzentriert sich auf das überzeitlich Emotionale der Hauptfigur und auf die ihn umgebenden Frauen – ihrem Leid, ihrer Abhängigkeit wird an diesem Abend beinahe genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt wie der Hauptfigur. Dazu hat der britische Komponist Gavin Bryars eigens eine neue Musik für die Bielefelder Philharmoniker komponiert – ausgehend von Edvard Griegs musikalischem Gynt-Zyklus, den Bryars mit minimalistischem Ansatz mal verkleinert, mal auseinanderzieht und insgesamt mit klarer Linie konzentriert. Die musikalische Uraufführung ist eine eigene Großartigkeit des Abends, zumal die Dirigentin Elisa Gogou die Bielefelder Philharmoniker fordernd, aber äußerst präzise und konzentriert leitet.
In seinem obligatorischen Norwegerpullover ist der junge Peer Gynt ist zunächst mal ein euphorisch Rasender, wie wir ihn kennen – und doch ist er anders: Er steckt in bester Folkwang-Tanztheatermanier voller Zwischentöne, die ihm der vielseitige, ausdrucksstarke Tänzer Gianni Cuccaro schenkt. Zu Beginn entstehen diese durch begleitende Monologe auf Italienisch (offenbar seine Muttersprache). Natürlich wird so auch seine Position als Außenseiter unterstrichen, die anfangs ebenfalls vereinzelt sprechende Dorfgemeinschaft nämlich äußert sich (teils singend) auf Deutsch. Sie formieren sich auf der Bühne in Opposition zu ihm, lassen ihn, wenn sie zu Ingrid Hochzeit im folkloristischen Kreis tanzen, kaum in ihre Mitte. Nur bei den Frauen hat er einen Schlag – und diese Seite betont Gregor Zöllig besonders: den Verführer Gynt, der quasi mehr oder weniger am laufenden Bande die Frauen um den Finger wickelt und leiden lässt, darunter auch Solveig und seine Mutter. Zum Zeichen der Parallele ihrer Schicksale tanzen beide in einem Duett sogar kurz synchron.
Peer Gynts Tanz ist zunächst vor allem wild und ungestüm, voller Überschwang breitet er wiederholt an den Bühnenrand rennend die Arme aus. In himmelschreiender Expressivität verliert er, an Seilen hochgezogen, den Bühnenboden unter Füßen, als er die Grüngekleidete trifft, die ihn anschließend unter Deck, in die lustvolle Orgie der Trolle entführt. Doch die Stimme des Knopfgießers, hier in Form eines umherschwingenden Megaphons, fragt ihn peinigend nach dem Selbst, das er sucht und nicht finden mag. Nach und nach, mit steigenden Leidenserfahrungen, zeugt sein Tanz zunehmend von Gebrochenheit. Dass Solveig ein glücklicheres Schicksal bedeutet hätte, erkennt er erst, als es zu spät ist, und der Knopfgießer schon darauf wartet, seine Seele einzuschmelzen.
Dieser Abend ist eine feine Charakterstudie, die die literarische Vorlage nicht einfach nur nacherzählt – Gregor Zöllig hält ihr eine klare Haltung entgegen, besinnt sich auf die emotionalen Schicksale der Geschichte, in die sich die Bielefelder Tänzer sehr sensibel einfühlen. Die Choreographie zeigt die heftigen Emotionen der Figuren in einer einfallsreich gestalteten Bühne (Hank Irwin Kittel, auch Kostümbild), und auch das Licht (Johann Kaiser) vermittelt auf außergewöhnlich intensive Art die Atmosphäre. Hier ist keine Szene überflüssig, jede inszenatorische und choreographische Idee scheint von einer konzeptuellen Logik durchdrungen. Das Bielefelder Publikum dankte mit langem Jubel und stehenden Ovationen.