Foto: Ewa Noack als Charlotte in „Wasted“ © Marc Lontzek
Text:Michael Laages, am 12. Februar 2021
Dies ist die erste Midlife-Krise, und sie kommt sehr früh – jedenfalls lange bevor die Rede sein kann von der Mitte des Lebens. Charlotte, Dani und Ted erinnern sich im Stück der englischen Autorin und Rapperin Kae Tempest (die bis vor einem halben Jahr noch „Kate“ hieß) an die Zeit, als sie alle erst 15 Jahre alt waren und gerade nicht mehr Kinder: Kleinstadt-Kids vielmehr, vollgestopft mit all dem kleinen Wahnsinn aus Wirrnis, Orientierungssuche in chronischer Grenzüberschreitung.
Tony, einst der Vierte im Quartett, starb offenbar früh – die Übriggebliebenen treffen sich an dem Baum, der über Tonys Grab steht. Zehn Jahre sind vergangen, und mit Mitte 20 stehen die drei nun recht wackelig im richtigen Leben: Charlotte wurde Lehrerin und unterrichtet jetzt Kinder in dem Alter, an das sie sich jetzt gemeinsam erinnert mit Dani und Ted; Ted heißt aber eigentlich (in der Übertragung von Judith Holofernes) Detlef, arbeitet in irgendeinem uninteressanten Büro der Kleinstadt-Verwaltung und tut, was die toughe Freundin Sally ihm sagt; Dani schließlich, eigentlich Daniel, scheint derweil noch immer auf der Suche – die eigene, wenig erfolgreiche Band ist nur ihm selber heilig, während er die nötige Kohle für die Rechnungen in einer Bar verdient, Extra-Lohn für schnellen Sex inklusive. Glücklich ist niemand – und im Gespräch blitzen Motive auf für all dieses wunschlose Unglück.
Aber auch die Ahnung davon, dass Flucht noch möglich ist – ausgerechnet die sicherste im Trio, auch die klügste und reflektierte, will raus aus Mühe und Mühle: hat gekündigt in der Schule und ein Flugticket gekauft. Wohin die Reise gehen soll, sagt sie nicht; die Beziehung zu Dani, die – wie es scheint – gerade begonnen hat, ist ihr schon wieder egal. Nur weg! Aber schlussendlich geht sie dann doch nicht – aber nicht der Freund ist entscheidend, sondern die Kinder in der Schule will Charlotte nicht im Stich lassen; die, die jetzt so sind, wie sie mal waren.
Der Text der Schriftstellerin und Musikerin Kae Tempest erzählt klar und knapp und schnörkellos; typisch englisches Theater, geradeaus und direkt. „Wasted“ war die erste Arbeit für die Bühne, und die Aufführung in Detmold hat den Titel schon deshalb beibehalten, weil das passende deutsche Wort fehlt – „waste“ ist Müll. Im Ansatz passen könnte „weggeworfen“ – denn die Protagonisten haben durchaus das Gefühl, die eigene Jugend wie die zehn Jahre danach ungenutzt entsorgt zu haben, in den Müll. Passiert ist ja nichts, nur Unglück – und ein bisschen Neid klingt durch: auf Tony, der vielleicht ja nur Anton hieß und sich schon vor zehn Jahren zurückziehen und davon machen konnte.
Klingt alles finster und fürchterlich – das ist aber in der Inszenierung von Magz Barrawasser gar nicht der Fall. Die Regisseurin, mit Assistenz- und Inszenierungserfahrung in Marburg, Essen und Bremerhaven, hält die drei Figuren fern von jedem Loser-Klischee; Ewa Noack, Emanuel Weber und Felix Frenken scheinen sogar ein bisschen zu leuchten durch alle Grautöne des Textes hindurch. Und auch der Tempest-Text (im Sound von Holofernes) zündet kleine Überraschungs-Raketen: wie in der (eher englischen) Geschichte von den Schul-Uniformen im Kleinstadtbild oder der von den „ironischen Hosen“, durch die sich stets die intelligenten Schlaumeierinnen und Schlaumeier auszeichneten.
Es gehört ja generell zu den Qualitäten im englischen Theater, dass Inszenierungen ihnen vor allem zunächst mal folgen können – um sich dann intensiv mit den einzelnen Persönlichkeits-Profilen zu beschäftigen. Das gelingt Barrawasser und dem Ensemble; und Bühnen- und Kostümbildnerin Victoria Unverzagt fügt ein wenig Poesie hinzu – mit den Tischchen und Hockern aus der Bar, vielseitig verwendbar, vor allem aber mit dem Traum von Baum: einer Stahl-Konstruktion, an der gegen Ende rotweißes Flatterband wie von der Großbaustelle festgezurrt werden kann, als sei es ein Schleifchen zum zehnten Todestag.
Real hält das Ensemble natürlich die nötigen Abstände ein – und erst die Kameras in der „filmischen Inszenierung“ sorgen für Nähe: teilen das Bild in drei Blöcke, hochkant nebeneinander oder gewürfelt, oder lösen Gespräche auf in Schuss und Gegenschuss. Wichtig ist das vor allem in den Übergängen zwischen den Szenen, die in ziemlich halsbrecherisch und wagemutig gedrechselten Rapper-Reimen wie in der Popmusik daherkommen. Auch das ist Tempest-Humus.
Eine kompakte Theaterstunde ist da zu sehen in Detmold – und immer wieder blitzt Hoffnung durch die Düsternis: wenn Charlotte dann eben doch nicht flüchtet, ohne dass das was mit Liebe und Sex zu tun hätte; oder wenn Ted (oder Detlef) den geradezu pandemisch-zeitgenössischen Traum vom Getränke-Lieferservice ausbreitet. Wie der heißen soll? „Koma-to-go“? Oder nicht doch besser „Die Drei von der Tankstelle“?
Das Nähere findet sich dann im Branchen-Telefonbuch.