Foto: Szene aus „Astronaut Wittgenstein” © Ines Bacher
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 13. Juni 2022
„Die Welt ist alles, was der Fall ist”, konstatierte der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinem während des Ersten Weltkriegs entstandenen „Tractatus logico-philosophicus”. Seine analytisch-sprachphilosophische Abhandlung läutete den so genannten Linguistic turn ein: die Erkenntnis, dass man das Denken nur durch die Analyse der Sprache verstehen könne und die Grenzen der Sprache immer auch die Grenzen der jeweiligen Welt bedeuten. Was aber passiert, wenn die Welt und ihre Begriffe auseinanderfallen, wenn sich die Sinne verwirren, die Erinnerung schwindet und wir gleichsam schwerelos außerhalb von Raum und Zeit existieren? Prallen wir schließlich auf die Erde wie ein Weltraumpilot, der aus seiner Umlaufbahn geschleudert wurde?
Der Sprachverlust einer Demenzkranken
In „Astronaut Wittgenstein”, der im Auftrag der Wiener Festwochen auf der Donauinsel entstandenen, ortsspezifischen Inszenierung der kroatischen Theatermacherin Nataša Rajković, dient der Weltraumfahrer als Metapher des Sprachverlusts und gleichzeitig als real gewordene Phantasie einer Demenzkranken. Von den Steinstufen der Freiluft-Arena-Bühne in der Kaisermühlenbucht schweift der Blick im Licht der untergehenden Sonne über die gemächlich dahinfließende Neue Donau und erhascht, vorbeigleitend an Schwänen und synchron paddelnden Kanuten, am gegenüberliegenden Ufer eine Gestalt, die sich aus einer Stoffbahn windet. Ein Astronaut in weißem Raumanzug und mit verspiegeltem Helm kriecht die Uferböschung hinauf, tanzt mit weit ausgebreiteten Armen Pirouetten, hüpft in die Luft und purzelt ungelenk den Abhang wieder hinunter, ehe er auf einem elektrischen Untersatz gleichsam schwebend über die Kaisermühlenbrücke wie von Zauberhand auf der Bühne landet.
Sie dient gleichzeitig als Uferweg für flanierende Liebespaare, Radfahrer und wilde Skater, die ahnungslos an der älteren Frau im Rollstuhl vorbeiziehen, die dem Astronauten zuerst zuwinkt, später furchtsam vor ihm flüchtet, als er ihr nachläuft, und schließlich selig mit ihm tanzt. „Astronaut!”, ruft Moni (Moni Preyhaupt), die von ihrer genervten Enkelin Lana (Lana Ujević) gebändigt wird. Bis Christoph Rothenbuchner vor das Publikum tritt und über die Probleme mit der verwirrten Oma berichtet, ehe er unvermutet von einem dem Donauwasser entstiegenen Mädchen (Alina Bertha) aggressiv angesprungen, geohrfeigt und geküsst wird. Es ist die Großmutter als Jugendliche, die sich ebenso wie Alexandru Cosarca mit Trompete als Halluzination Monas entpuppt, die sich mit Phantasiegestalten umgibt. Hand in Hand verschwindet sie mit ihnen am Ende in die Dunkelheit, nachdem der Astronaut (Konstantin Oberlik) als eine Art Showmaster zwei reale Vertreter des TU Wien Space Team interviewt hatte, die an Raumfahrtprojekten arbeiten.
Es fehlt die Metaebene
Dass sich die Grenze des Weltalls in 100 Kilometern Höhe befindet, zählt dabei zu den wenigen erhellenden Momenten der Inszenierung, die auf der Basis eines flachen, schwurbeligen Textes in Szenchen zerfällt, nie einen Flow, einen richtigen Ton oder gar eine theatralische Metaebene entwickelt. Stattdessen driftet sie in Kitsch, als ein Elektroboot mit einer Braut in Weiß vorbeizieht, während die Enkelin von Omas gescheiterten Ehen berichtet. Unausgegoren zwischen Tanzmomenten und schulischem Frontalunterricht über den Begriff der Demenz schwankend, finden die DarstellerInnen kaum zu einem gemeinsamen Spiel.
Verschenkt wurde der aufklärerische Reiz eines Vexierspiels zwischen Realität und Fiktion, wie es etwa dem australischen Back to Back Theatre 2015 mit „Small metal objects” bei den Festwochen gelang. Durch eine kluge szenische Setzung mitten unter unbeteiligten Passanten auf der Wiener Mariahilferstraße gelang gleichsam die Transformation der Bühne zum Denkraum: Indem die Wahrnehmung selbst erfahrbar gemacht und die sogenannte Normalität in Frage gestellt wurde. Ähnlich eindringlich und subtil thematisierte das Back to Back Theatre den „Normalzustand” übrigens in „The shadow whose prey the hunter becomes”, einer der wenigen gelungenen Produktionen der diesjährigen Wiener Festwochen.
Ließ sich für Wittgenstein das Unsagbare etwa durch einen Blick auf die Kunst erhaschen, so fand Nataša Rajković in „Astronaut Wittgenstein” leider keinen überzeugenden Ausdruck für die allzu oberflächliche Verquickung von Sprachphilosophie und Verstandesverlust. „Diese Scheißdemenz kotzt mich an, ich kann nicht mehr!”, verhallt die Klage der Enkelin in der Nacht. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen”, raunt Wittgenstein.