Foto: Brandstifter beim Schützenfest: Szene aus Andrea Moses' "Wozzeck"-Inszenierung. © A.T. Schaefer
Text:Detlef Brandenburg, am 18. Mai 2012
Merkwürdigerweise steht Alban Bergs Oper „Wozzeck“ in dem Ruf, sie inszeniere sich von selbst. Dass stimmt aber allenfalls dann, wenn man unter einer Inszenierung die szenische Einrichtung versteht. Die nämlich wird durch Alban Bergs Musik, die das szenische Geschehen förmlich einsaugt, ungemein präzise definiert – obwohl der Komponist ja durchaus absolute Formen verwendet. Das Inszenierungskonzept allerdings fordert vom Regisseur durchaus Entscheidungen. Und es ist vielleicht eine Schwäche von Andrea Moses’ „Wozzeck“-Inszenierung an der Staatsoper Stuttgart, dass sie diese Entscheidungen nicht klar genug fällt.
Dabei hat ihre Arbeit eine Menge Stärken: Wie Moses diese ganze Schützenheim-Gesellschaft bewegt und charakterisiert, in der Wozzeck als Faktotum des Vereinslebens wütet und leidet; wie sie die schrecklich biedergemütlichen Prolo-Typen und die besseren Chargen aus der Vorstandsriege zeichnet, in einem Drehbühnen-Backsteinbau, dem der Ausstatter Christian Wiehle die ganze Scheußlichkeit des funktionalen Gemeindezweckbaus gegeben hat: das ist bis in die kleinste Rolle hinein stark. Die Marie der Frances Pappas beispielsweise ist eine ganz eigene Figur, eine schwarzlockige Verzweiflungssünderin von sehr südländischem Temperament – fast könnte sie als Migrantin in diese Gesellschaft geraten sein. Dass Pappas hier mit solcher Präsenz und dazu mit einem hellen Sopran von herber Ausdruckskraft auftrumpfen kann, grenzt an ein Wunder, denn sie hatte als Einspringerin in der zweiten Vorstellung für die erkrankte Christiane Iven nur anderthalb Tage Zeit, die Andrea Moses offenbar intensiv für Proben genutzt hat. Oder Gerhard Siegel als Schützen-Hauptmann: ein alerter Fiesling mit manchmal gellend lautem, dabei aber erstaunlich klarem Tenor – Siegel hatte den erkrankten Torsten Hofmann bereits bei der Premiere vertreten und war hier nun zum zweiten Mal dabei.
Und dann natürlich der Wozzeck von Claudio Otelli: Seiner Rolle rückhaltlos hingegeben, dabei aber kein brüllender Berserker, sondern ein leidend Getriebener, in dessen Verzweiflungsausbrüche sich längst die Trägheit der Resignation geschlichen hat. Er singt die Partie mit vielen leisen, auch kantablen Tönen – der Hauptmann könnte da ruhig ein bisschen genauer hinhören, wie viel man auch auf diese Weise erreicht. Und noch einer ist auf differenzierte Weise präsent: Roland Bracht als Doktor von abgründiger Bass-Grausamkeit. Dazu das markante Tenor-Profil, das Gergely Németi Wozzecks Kameraden Andres verleiht, Daniel Brenna als Tambourmajor und Schützenkönig in schwarzer Brutalo-Ledermontur, die zwielichtigen Strizzi-Handwerksburschen von Mark Munkittrick und Kai Preußker, Tina Hörhold als dralles Margret-Flittchen, sie aller vereint und ineinander verclincht beim biedersinnig-bösen Treiben im Schützenheim mit seinen präpotenten Machoposen, den offiziellen Ritualen des Schützenkomments und den heimlichen Mechanismen der allseitigen Grausamkeit: das ist schon sehr packend.
Und doch fragt man sich permanent, wo Moses ihren Wozzeck eigentlich genau sozial verorten will. Irgendwo mag es solche Biedermänner aus den Untiefen des deutschen Provinzlebens ja geben; aber ist das wirklich das Milieu, in dem Ärzte an den Ärmsten der Armen ihre Exprimente vollziehen? Ist das nicht eher Kleinbürgertum als Prekariat? Und wieso ist dem Schützenheim überhaupt eine Arztpraxis attachiert – sind die Kollateralschäden beim alkoholisierten Scheibenschießen so gravierend? Und was sind das für seltsame Kofferträger, die offenbar die Experimente des Doktors finanzieren? All das bleibt, obwohl mit teils parodistisch überspitzter Betriebsamkeit entwickelt, doch sehr diffus. Und als Wozzeck erst die gemordete Marie im Müllcontainer und dann sich selbst in der Regentonne auf der Rückseite des Vereinsheims entsorgt, da bewegt sich der freiwillige Realismus hart der Grenze zum unfreiwilligen Humor.
Vor allem aber stellt sich die Frage, ob man mit dem Versuch einer genauen sozialen Verortung hier überhaupt über die Runden kommt. Denn es gibt ja doch einen Unterschied zwischen „Woyzeck“ und „Wozzeck“: Wo bei Büchner die gespenstischen Halluzinationen des Helden durch dessen psychischen Defekte halbwegs motiviert werden, verhält es sich damit bei Berg ambivalenter. Bei ihm werden diese Phantasien zum Anlass, die ganze „Wozzeck“-Welt ins Phantasmagorische zu überhöhen und ihr damit eine meta-psychische, ja eine fast metaphysische Trostlosigkeit und Wirrnis zu verleihen, die über einen reinen sozialen Realismus nicht mehr einzulösen ist. Das hat Andrea Moses offenbar auch gespürt. Denn der von Heinz Göhrig stark verkörperte Narr ist hier ein schwarzer Transvestit im Soutane-artigen Gewand, eine Art Todesengel der Scheibenschützengesellschaft, der Wozzeck das Messer zuspielt und ihm folgt wie ein böser Schatten. Was aber letztlich doch unentschieden bleibt: Der Realismus greift nicht nur zu kurz; er steht in seiner ganzen Detailverpusseltheit der Überhöhung ins Surreale auch arg entgegen.
Dem Dirigenten Michael Schønwandt kann man Unentschiedenheit gewiss nicht vorwerfen. Im Gegenteil: Er musiziert diese Musik in einer lakonisch und zügig ausgeführten Plastizität, die zu einer beeindruckenden strukturellen Klarheit führt, aber auch viele Zwischenwerte und Farbfinessen ausblendet und manchmal etwas holzschnittartig klingt. – Am Ende der zweiten Vorstellung begeisterter Beifall.