Foto: Silvia Rieger © Thomas Aurin
Text:Michael Laages, am 14. April 2016
Noch einmal (und sicher nicht zum letzten Mal) darf gestaunt werden über dieses Theater; und all den Abwicklern in Berlin, die von der Volksbühne so, wie sie ist, nichts mehr wissen wollen, müssten derzeit gehörig die Ohren klingeln. Denn als stünde die Bühne nicht kurz vor dem Ende der Vierteljahrhundert-Ära unter Frank Castorfs Direktion, sondern als würde sie gerade jede Menge Neuanfang beschwören, gibt das Haus gerade Gas wie lange nicht mehr, es drückt auf alle Tuben und ist Kraftanstrengung pur. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht mindestens zwei Vorstellungen zeigen, wo es noch immer lang gehen kann; und alle Stützen der Volksbühnen-Gesellschaft sind im Einsatz. Silvia Rieger etwa, Castorfs Weggefährtin schon vor über 30 Jahren in Anklam, hatte für die „Schwarze Serie“ zwischen Ostern und Pfingsten schon Gorkis „Sommergäste“ mit Studierenden bestückt; jetzt stellt sie ein Projekt vor, das stark nach Herzenssache klingt.
Inge Meyer, schon unter diesem Mädchennamen und dann an Heiner Müllers Seite eines der aufregendsten literarischen Talente der jungen DDR, schrieb vor allem Lyrik; in der Ausgabe ihrer Werke unter dem Titel „Inge Müller. Dass ich nicht ersticke am Leisesein“ versammelte die Herausgeberin Sonja Hilzinger einige Prosatexte unter dem Projekt-Titel „Ich. Jona“. Jona – das war auch das in den Trümmern von Berlin tagelang verschüttete Kind Inge; und wie für ein Kind zaubert der Dramatiker Lothar Trolle dezent, zurückhaltend und voller Verehrung für Inge Müller jetzt einen vielgestaltigen Theatertext aus diesen Fragmenten. Silvia Rieger erfindet das „Jona“-Projekt als Solo für sich selbst.
Mit kleinem roten Lampion tanzt das Kind auf die Bühne – und kräht „Ich geh‘ mit meiner Laterne, und meine Laterne mit mir… “. Jedes Kind kennt das niedliche „rabimmel-rabammel-rabumm“ als das Ende vom Lied – hier aber tritt mit diesem „Bumm“ halt der Tod neben das Mädchen. Erst steht das Kind noch staunend in den Straßen des heimatlichen Viertels, dann aber findet sie sich auf der Flucht und im Krieg wieder; gleich darauf zwischen den Trümmern der Welt, die kurz zuvor noch die ihre war: ihre Straße, ihre Schule … und alles tot dazwischen. Zwischen kühler Beobachtung und dramatischer Poesie driften Müllers Motive in Trolles Text auf und ab, hin und her; um in eine Art Alptraum zu münden: mit dem Kind auf sehr dünnem Eis. Aber dann sieht es etwas, ein Wesen, das fliegen kann …
Vom „fremden Grab“ spricht das setzte Wort; und wie erstorben verklingt das Laternen-Lied vom Beginn. Silvia Rieger verstrickt sich rückaltlos in die Texte, erklärt sie nicht, entwirrt nichts, was nicht entwirrt werden will, spielt voller Rätsel, aber (wie Trolle) sehr zurückhaltend mit den Schnipseln und Fragmenten dieser verschütteten Phantasie aus Worten, Sätzen und Gedanken. Als wäre das ganz leicht, jongliert sie in Bert Neumanns wie untotem Bühnenraum mit Stimmungen, die kaum je wirklich leicht sind; kleine Tanzschrittchen zu Beginn lassen den Drahtseilakt ahnen, der gleich kommt.
Was wollte Frank Castorf schon vor 25 Jahren im Zentrum des Theaters, seines Theaters sehen? „Das Besondere“. Ein Abend wie „Jona“ ist vor allem das: besonders. In Riegers besonderem Solo-Spiel, im Text dieses sehr besonderen Autors und treuen Volksbühnen-Begleiters Trolle lebt dieser Gedanke auch noch nach so langer Zeit.
Daran wird zu erinnern sein, wenn demnächst alles anders wird.