Foto: Xin Peng Wangs "Geschichten aus dem Wiener Wald" © Bettina Stoess
Text:Marieluise Jeitschko, am 24. Februar 2014
Ist das Literaturballett gestorben? Der Trend geht zum Tanzstück, das bloß noch inspiriert ist von großer Literatur. „Nach Motiven von….“ entwerfen Choreographen heute ihre Szenarien, John Neumeier etwa „Liliom“ nach Ferenc Molnárs gleichnamiger Wiener Legende, Hans Henning Paar „Das Schloß“ nach Franz Kafkas Roman und nun Xin Peng Wang „Geschichten aus dem Wiener Wald“ nach Ödön von Horváths Volksstück.
Da muss der Literaturfreund auf manches verzichten. Bei Wang, der wie Neumeier über eine riesige Bühne und eine große, klassisch trainierte Kompanie verfügt, vor allem auf das kleinbürgerliche Ambiente und die feinen Zwischentöne intimer Szenen und Charakterzeichnungen. Personen hat Wangs Dramaturg Christian Baier eliminiert, vor allem Männer (die in vielen Kompanien bekanntlich noch immer Mangelware sind): der Zauberkönig – Marianne Vaters – etwa, der Rittmeister und der Student Erich – auch die Realschülerin, die unsichtbar bleibt und nur zu hören ist bei Horváth: sie übt auf einem verstimmten Piano Strauß-Walzer, bricht aber immer wieder abrupt ab – ein raffinierter dramaturgischer Griff, der auch in Wangs Ballett übernommen wird. Melancholische Untertöne werden noch dazu durch Kompositionen von Alban Berg unterstrichen – alles vorzüglich gespielt von den Dortmunder Philharmonikern unter Motonori Kobayashi. Den omnipräsenten Tod fügt Baier als Hauptfigur ein und hängt die Kleinbürgertragödie an der Wiener Legende auf, der zufolge Menschen, die in ihrem Leben etwas schuldig geblieben sind, von den Toten auferstehen müssen, um die versäumte Schuld in einem Erdenjahr gut zu machen.
Mit dem „Kaiserwalzer“ beginnt und endet Wangs Ballett. Aber gleich im Prolog mischen sich Dissonanzen in die festlichen Klänge. Alban Bergs Klaviersonate opus 1 weist auf das düstere Szenario: ein Schlachtfeld voller Gefallener – fünf Särge schweben darüber. Am Himmel lodert ein blutroter Streifen. Vorn an der Rampe liegt ein schönes Kind (Stephanine Ricciardi) – ganz in Weiss: unschuldig, in festlicher Erwartung des Lebens und doch schon vom Tod berührt… Aus dem Schatten treten fünf Menschen in die helle Welt zurück – um Versäumtes nachzuholen, Fehler auszubessern. Vor allem Marianne will ganz anders leben: sich nicht von dem Hallodri Alfred betören lassen, nicht wieder ihr Kind anderen anvertrauen (Alfreds Mutter und Großmutter, der Baronin), die es zu Tode „pflegen“. Dem grobschlächtigen Metzger Oskar will sie treue Gattin sein und eine fürsorgliche Mutter werden – aber nichts gelingt ihr.
15 Totenskelette schweben vom Schnürboden. Marianne umarmt sie spielerisch (bei Horváth in des Vaters Spielzeugladen), scheint ganz vertraut mit ihnen. Dass sie Oskar nichts abgewinnen kann, ist verständlich: zudringlich ist er, ohne Fantasie und Träume wie sie sie noch hat. Ganz anders Alfred – ein Galan, ein Filou, ein Beau und Habenichts, der die Hände lässig in den (leeren!) Hosentaschen vergräbt… Sie verfällt ihn, er verlässt sie, weil das gemeinsame Kind nicht in sein müßiges Leben passt. Marianne rettet sich in ihrer Verzweiflung in die Kirche. Aber dort lauert unter der weißen Mönchskutte der Tod: man verzeiht ihr die „wilde Ehe“ und den „Bastard“ nicht. Zurück muss sie zu Oskar – und ist innerlich tot, leichte Beute für Gevatter Tod.
Mark Radjapov tanzt in mannigfacher Gestalt – unnahbar und unheimlich – sein klassisches Repertoire mit Bravour aus. Berührend zeigt Monica Fotescu-Uta Mariannes Verzweiflung, technisch ungemein differenziert. Immer wieder knicken die Füßen um, verheddern sich die Arme, krümmt sich der Körper unter dem Seelenschmerz. Dmitry Semionov ist ein eher zurückhaltender Alfred mit entwaffnender Nonchalence. Der Pas de deux der beiden voller Eleganz und Geschmeidigkeit gehört zu den schönsten Szenen des Balletts. Beide blühen auf, als ihre Liebe zu einander erwacht. Man hört förmlich den poetischen Dialog des gegenseitigen Verstehens: „Ach, wir armen Kulturmenschen, … keiner darf, wie er will… keiner will, wie er darf… keiner darf, wie er kann – und keiner kann, wie er soll“. Eine hinreißend kokette Valerie tanzt Emilie Nguyen – weit entfernt von Horváths verwitweter Trafikantin, hier eher Puccinis Musetta aus „La Bohème“. Howard Quintero Lopez ist mehr bieder als grobschlächtig brutal wie Horváth den Metzger Oskar zeichnet.
Nur die Schläppchen und sackgrauen Kleidchen zu Beginn weisen auf ein einfaches Leben der Kleinbürger im 8. Wiener Gemeindebezirk. Oft will die ausgelassene, knisternde Strauß’sche Walzerseligkeit nicht passen, wirkt geradezu zynisch wie Horváths satirischer Unterton. Bergs Kompositionen bremsen die Leichtlebigkeit aus. Aber insgesamt verströmen die große Bühne – Frank Fellmann setzt raffiniert theatrale Akzente – und die weißen Kostüme von Alexandra Schiess ein mediterranes Flair, leicht und hell. Ballerinen auf Spitze, das Corps als Marionetten des Schicksals und als Clowns in altmodischen Badeanzügen – zum Schwimmen in der „schönen blauen Donau“ beim Ausflug in den Wienerwald – sorgen für eine unterhaltsame Note. Überaus aufwändig ist diese Dortmunder Ballettproduktion wieder, grandios getanzt und sehr publikumswirksam.