Foto: Mit Goldstaub im Paradiso © Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale 2017
Text:Bettina Weber, am 25. August 2017
Nun ist die Trilogie „Three Stages“ von Richard Siegal im Rahmen der Ruhrtriennale vollendet: „Model – In Medias Res – El Dorado“ beim PACT Zollverein in Essen.
In diesem Paradies sind Frauen nur als symbolische Garnierung geduldet. Während an der Brandmauer ein Pissoir überläuft und in einem endlosen Strom seinen Inhalt auf die Bühne ergießt, kniet die nackte Sandra Balkmann als Golden Girl demütig im schmutzigen Nass. Ihr Körper ist pure quellende Fruchtbarkeit, eine goldbestäubte Venus von Willendorf, die später breitbeinig sitzen, auf dem Bauch liegen und mit einem phallusartigen Schlauch (Penisneid, ick hör dir trapsen!) posieren darf. Das Paradies ist ein Ort der Männer. Ein Ort der Götter, der Väter, der Söhne – nicht der Frauen. Aber ist es überhaupt das Paradies?
„El Dorado“ überschreibt der Choreograph Richard Siegal den letzten Teil seines Palimpsest von Dantes „Göttlicher Komödie“ bei der Ruhrtriennale. „Model“, so der Titel des ersten Teils, ähnelt einer Hölle der unter Stress gesetzten Sinne, von deren Zentrum die um sich kreisenden Tänzer magisch angezogen wurden: L’enfer c’est moi. Das eher konzeptuelle und installative „In medias res“, das Dantes Purgatorio in eine Restaurantbaustelle verlegt, arbeitet mit Metaphernfeldern wie Einverleibung und Ausscheidung, Ikonisierung und Läuterung. Der abschließende dritte Teil schließlich, der jetzt in einer viereinhalbstündigen Tour de force mit den beiden vorhergehenden uraufgeführt wurde, ist dem danteschen Paradiso gewidmet. Doch Siegal verortet es nicht in himmlische Sphären. Das Jenseits liegt im mythisch überformten El Dorado, dem sagenhaften Goldland der kolumbianischen Muisca, die ihre Herrscher rituell in Goldstaub einhüllten. Ist das Paradies also ein von kapitalistisch-ausbeuterischen Träumen ausstaffiertes Sehnsuchtsland?
Choreograph Richard Siegal konfrontiert seinen Star Corey Scott-Gilbert mit dem 77-jährigen Gus Solomons jr., einer Legende des Postmodern Dance aus legendären Merce Cunningham-Zeiten. An ihren nackten Körpern kleben noch Reste von Goldstaub. Unter einem LED-Wärmegrill umkreisen sich die beiden, legen michelangelesk die Finger, dann die Hände aneinander. Komponist Lorenzo Bianchi Hoesch lässt dazu ganz handzahm die elektronische Vögel zirpen. Doch das Ritual der Sonnenanbetung weicht einem anderen archaischen Ritual. Gus Solomons jr. rezitiert die ersten Verse des 67. Gesangs der „Comedia“, Corey Scott-Gilbert spricht sie gehorsam zeitversetzt nach. Mit einem Gehstock dirigiert der Alte die Gliedmaßen des am Boden liegenden Homunculus. Schöpfer und Geschöpf, Gott und Mensch, Vater und Sohn – Richard Siegal beackert weidlich die Assoziationsfelder, lässt seinen Gott ein bisschen evolutionsbiologisch herumspielen und akustisch donnernde Spiralnebel evozieren, bis aus dem hermeneutischen Urwald sich allmählich die neue Religion herausschält: der Ödipus-Komplex und die Psychoanalyse.
Schon angedeutet durch das zuvor zitierte Rätsel der Sphinx vom Wesen auf vier, zwei und drei Beinen und Sophokles berühmter Formulierung von der „alten Schuld“. Siegals Behauptung, dass die Religion durch die Psychoanalyse ersetzt worden wäre, klingt provozierend gut, lässt aber erhebliche Zweifel aufkommen. Ein Blick auf die religiöse Wetterkarte der Welt lässt Mitteleuropa als weißen Fleck des Säkularen erscheinen. Umgeben von einem Meer unterschiedlichster Glaubensvarianten. Und selbst bei uns ist an synkretistischen Backmischungen kein Mangel. Dantes Jenseitsvorstellung, ob mit oder ohne jungfräuliche Beatrice, wäre durchaus auf den Grund zu gehen. So aber steht der Sohn in triumphaler Pose mit baumelndem Gemächt über der geschändeten Mutter, während ihn der entthronte Vater mit „Motherfucker“-Rufen traktiert. Gus Solomons jr. legt seinem abtrünnigen Sohn die Hände auf den Schädel und stößt ihn in einen veritablen Taumel der Schuld. Ein Ritual, das Corey Scott-Gilbert schließlich immer wieder einfordert. Es gibt kein Entkommen aus dem archaischen Frevel – bis der Mutterschänder unter einer Golddusche geläutert wird und kriechend „Halleluja“ ruft. Danach fertigt das männliche Duo einträchtig Rorschachbilder mit Fäkalien an – bis der Alte schließlich das Zeitliche segnet.
Erlösung ist nirgends, das Ringen darum vergeblich, so lautet die Botschaft des Abends. Doch wie die Gedankensplitter zusammenzudenken wären, bleibt rätselhaft. Richard Siegal ist ein Meister des assoziativen Pointillismus, der viel andeutet, aber wenig ausbuchstabiert. Kolonialismus, Mythos, archaisches Ritual, Religion, Psychoanalyse, Inzest, Göttliche Komödie, Erlösung – all das dient eher einem bildträchtigen Nudging des Zuschauers, als einer konzisen Annäherung an Dantesche Paradies-Welten. Tänzerisch hat „El Dorado“ – auch bedingt durch den eingeschränkten Bewegungsradius von Gus Solomons jr. – einen ruhigen, fast elegischen Puls, keine dieser kraftstrotzend-energetischen Körpergewitter, keine Präsentation einer phänomenalen Technikbeherrschung. Es ist eher ein Abend der zum bedeutungsschwanger aufgeladenen Bild geronnenen Bewegung. Erlösung in der Tanzhölle ist also auch durch Richard Siegal nicht zu erwarten: Choreographische oder konzeptionelle Goldklumpen sucht man in „El Dorado“ vergeblich.