Siebenfache Wiederholungen: ein Parforceritt
Besonders heikel ist das Thema deshalb, weil zum Zeitpunkt des Mordes ein Mitarbeiter des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Andreas Temme, im Café anwesend war, der als einziger keine Schüsse gehört und auch das tödlich verletzte Opfer nicht gesehen haben will. Die Akten des Verfassungsschutzes, die Temme hätten belasten können, wurden bis 2044 unter Verschluss gestellt, was die unabhängige Forschungsgruppe „Forensic Architecture“ veranlasste, anhand sämtlicher zur Verfügung stehender Daten eine Rekonstruktion des Tathergangs zu erstellen. Diese Gegenrecherche zu den offiziellen Ermittlungen diente Autorin Daniela Danz als Vorlage für ein Libretto, das mit disparate Textfetzen das typische Grundrauschen eines Internet-Cafés zwischen Dating-Portal, Ferngespräch in die türkische Heimat, telefonischem Autokauf und Online-Ego-Shooter erzeugt. Die insgesamt siebenfache Wiederholung des Handlungsablaufs, bei dem die Darstellerinnen und Darsteller jedes Mal die Rollen tauschen, irritiert zunächst, weil Frost die im Programmheft angekündigten Perspektivwechsel auf das Geschehen kaum erkennbar herausarbeitet und der von den zehn Streichern und zwei Schlagzeugern des Niedersächsischen Staatsorchesters unter der Leitung von Florian Groß dargebotene Parforceritt zwischen Heavy Metal und Minimal Music einfach nicht enden will.
In kurzen Pausen tanken die Darsteller während des zweistündigen Abends an Getränketischen auf der Bühne Kraft. Markante Änderungen wecken die betäubte Aufmerksamkeit dann wieder ab dem fünften Durchlauf. Die Musik verstummt, die Gesangsstimmen erheben sich über die dumpfe Geräuschkulisse des Ego-Shooters „Call of Duty“ und zuletzt über das Rauschen und Pfeifen einen Schneesturms, während weiße Flocken und Nebel die Bühne in einen frostigen Nicht-Ort verwandeln. Acht zum Teil schon zuvor in die Szenerie verwobene gesichtslose Figuren in weißen Schneeanzügen steigern das Unbehagen, erinnern an die acht weiteren NSU-Opfer – und an ein eisiges Land, in dem der Staat zum Schutz seiner Behörden die Aufklärung eines rassistisch motivierten Mordes behindert. Auch wenn das starre Konzept der Oper dem Komponisten und Regisseur Ben Frost im ersten Teil noch im Wege steht, gelingt ihm ein Abend, der physisch erschüttert und sich ins Gedächtnis einbrennt. „Der Mordfall Halit Yozgat“ gemahnt uns daran, dass eine geschlossene Gerichtsakte noch lange kein Recht bedeutet. Und sie entfesselt jene Gespenster auf der Bühne und in unseren Köpfen, die nicht Ruhe geben, bis die wahre Geschichte des ihnen angetanen Unrechts nicht mehr verschwiegen wird.