Foto: Szene mit Ligia Lewis in ihrem Solo "A Plot/ A Scandal" © Katja Illner
Text:Bettina Weber, am 13. August 2022
Die ersten Sprünge sind rückwärts, immer rund herum. Den Oberkörper lässt Ligia Lewis hängen, als sei der Blick in das Vergangene, in das Körpergedächtnis, gleichsam kreisläufig und erdrückend. Es ist ein starkes Bild für den Einstieg, schlicht und doch naheliegend, denn die Tänzerin, Performerin und Choreografin Ligia Lewis setzt für ihr neues Solo „A Plot/ A Scandal“, das bei der Ruhrtriennale nun seine „Pre-Premiere“ feierte (die „Premiere“ folgt im Berliner HAU – Hebbel am Ufer, das Lewis‘ Arbeit seit Langem fördert) den eigenen Körper wie ein Archiv ein, aus dem sie alle Bilder schöpft.
Schonungsloses Spiel
Im Zentrum des Stücks stehen die drei Bedeutungsebenen des „plot“ im Englischen, die auch das Stück in drei Abschnitte gliedern: die narrative Geschichte erstens, der räumliche Landbesitz zweitens sowie der Komplott als Auflehnung gegen die bestehende Ordnung drittens. Den (kulturellen) Skandal befragt die in der dominikanischen Republik geborene Ligia Lewis anhand einer persönlichen Geschichte, nämlich die ihrer Urgroßmutter (oder Ururgroßmutter, wie es in der Audio-Einführung heißt) Lolon. Dass diese als Schwarze Frau, als Widerstandkämpferin, einst in der dominikanischen Republik Land besaß und dort Voodoo praktizierte, galt den damals Herrschenden als skandalös. Doch es geht Lewis nicht um persönliche Vergangenheitsbewältigung, vielmehr ist dieser Bezug offenkundig ihr Anlass, künstlerisch danach zu fragen, wer eigentlich festlegt, was denn skandalös und was normativ ist – wo der Störungsakt Vergnügen erzeugt und auf wessen Kosten. Und das gelingt ihr über weite Strecken des rund 80-minütigen Abends sehr eindrücklich – nicht nur, weil sie ihren Körper als performerisches und tänzerisches Instrument hierfür sehr assoziationsreich und schonungslos zu bespielen weiß, sondern auch, weil sie die Verbindung zum Publikum fortwährend sucht und nie abreißen lässt. Ihr Blick, ihre Mimik, Gestik sind stets auffordernd, die Blicke der Zusehenden sucht sie intensiv.
Wenn Ligia Lewis zu Beginn den plot als Handlung, als Geschichte fokussiert, ist vor allem ihre Körpersprache entscheidend, die ruckartigen Bewegungen und die entgleiste Mimik, als sei sie nicht Herrin ihrer Sinne, sondern von fremden Mächten ferngesteuert. Ihre Stimme ist tief, dann schlagartig hoch und grell, sie streckt die Zunge raus, lacht wie besessen. So beeindruckend die Lust an dem Spiel mit der Irritation, so ermüdend die Wiederholung.
Humor und Ekel
Erfindungsreicher, ausdruckstärker und komplexer ist da der mittlere Teil des Abends. Es geht um den Komplott, den Skandal, und durch den persönlichen und politischen Kontext der Performance auch um das Zeitalter der Sklaverei. Lewis, mit blonder Allongeperücke, weißer Männerunterhose und BH unter einem langen, offenen Mantel bekleidet (Kostüme: SADAK), nimmt jetzt volle Fahrt auf. Sie räkelt sich zwischen kleineren und größeren silbernen Schädeln auf einem Fell, imitiert im Sitzen rutschend und wiehernd einen Ritt über den Boden, der aus großen, bronzefarbenen Platten besteht, während im Hintergrund Kirchenglocken und Klänge eines Spinetts ertönen (Komposition und Sounddesign: George Lewis Jr AKA Twin Shadow und Wynne Bennett). Wie Fußbodenkacheln sind die Platten angeordnet, ein Zoom auf das Innere eines kolonialistischen Herrenhauses (Bühne ebenfalls Ligia Lewis). Sie imitiert ein Pinkeln mit heruntergelassener Hose auf die Bühne, lässt sich ein Stück Fleisch bringen (Justin Kennedy hat hier einen glänzenden Kurzauftritt als servierender „Leibeigener“) und verschlingt es gleichermaßen gierig wie ekstatisch. Fungiert der Humor hier auch als eine Form der Kapitulation vor dem Unerträglichen? In jedem Fall ist es unmöglich, sich dem Bann ihres Spiels zu entziehen. In verschiedensten Variationen führt sie die Figur des weißen Kolonialherren vor, macht ihn lächerlich, und stellt in all dem nicht nur die Frage, was skandalös ist und war, sondern vor allem wer.
Es geht ihr also eindeutig auch um das Entlarven eingebrannter Perspektiven. Wenn sich das Stück den Gesetzen der Sklaverei zuwendet und den Aufständen auf Hispaniola, nimmt sie John Locke in den Fokus. Und präsentiert ihn nicht als Theoretiker der Aufklärung, sondern als zwiespältigen Denker, der die Sklaverei naturrechtlich zwar ablehnte, völkerrechtlich jedoch billigte. Nicht die inhaltliche Erkenntnis ist hier überwältigend, sondern das assoziativ schillernde und präsente Spiel von Lewis.
Zeitreise ins Innere
Ihrer (nie gekannten) Großmutter und dem Voodoo widmet sie sich zum Schluss, jetzt scheint sie die Einkehr in die körperliche Erinnerung zu vereinnahmen, die tanzende Suche nach dem Geist ihrer Vorfahrin in ihrem Inneren. Sie brüllt noch einmal Richtung Auditorium: „Fight up the False!“. Rassismus als Erbe der Sklaverei ist ein gegenwärtiges Problem. Weil Ligia Lewis die deutlichen Symbole nicht scheut, kommt jetzt auch noch weiße Farbe ins Spiel; sie reibt sich ein damit, tanzt weiße Fußabdrücke auf den Boden und scheint schließlich fast zu verschwinden vor den Blicken des Publikums in der Turbinenhalle, deren Aufmerksamkeit sie bis hierher gebündelt hat – als sei jede Minute des Abends eine Einladung, mehr von ihr zu sehen.