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Der Sekundär-„Faust“

Charles Gounod/Elfriede Jelinek: Faust

Theater:Theater und Orchester Heidelberg, Premiere:16.03.2018Regie:Martin G. Berger

Martin G. Bergers furiose „Faust“-Überschreibung an der Heildelberger Oper

Dem Besucher, der die jüngste „Faust“-Premiere am Theater und Orchester Heidelberg verlässt, kann nach diesem furiosen Abend ganz schön der Kopf schwirren. Was war das denn nun eigentlich, was man da erlebt hat? Welchen Reim soll man sich darauf machen? Und wie es nennen? Aber dieses Schwirren ist vielleicht schon einer der grundlegend positiven Aspekte eines Abends, der die klaren Zuordnungen mit gezielter Präzision verweigert, der Konventionen unterläuft und damit die Aufmerksamkeit immer neu herausfordert – und der keinen Stein auf dem anderen lässt und am Ende doch eine eindrucksvolle musikdramatische Architektur gebaut hat. Martin G. Berger ist der inszenierende Architekt, Elias Grandy der dirigierende Bauzeichner dieses Abends. Sarah-Katharina Karl setzt dazu die Bühnenmaschinerie des unlängst renovierten Hauses mit Showeffekt-sicherer Opulenz in Bewegung; und Sabine Hartzsch sowie Dennis Ennen haben die mit den allerunterschiedlichsten historischen, medialen und sozialen Assoziationen spielenden Kostüme erdacht. Das Ganze ist obendrein auch noch unverschämt unterhaltsam. Ziemlich unverschämt sowieso. Und vor allem ist es – zumindest bis zur Pause – unverschämt gut.

Aber was ist das denn nun eigentlich? Klar ist: Es wird die Musik von Gounods „Faust“ gespielt. Diese Oper hat ja die bildungsbürgerlichen Hobby-Germanisten in Scharen auf die Palme gebracht – ihr Vorwurf: Gounod und seine beiden Librettisten Michel Carré und Jules Barbier hätten Goethes Weltendrama auf eine kitschige Love-and-Crime-Story im gotischen Gruselambiente verkürzt. Die Musik entzückt dennoch die Melomanen, weil sie so süffig ist und sozusagen aus dem Stand heraus die Seele zu bewegen vermag. Klar ist aber auch: Die Dramaturgie dieses Abends in Heidelberg geht auf eine extrem wirkungsvolle Ko-Autorin zurück, und die schreibt fürs Schauspiel und heißt Elfriede Jelinek. Schon hier also kommen die Grenzen der Sparten ins Tanzen. Jelinek brachte 2012 ihren „FaustIn and out“ heraus, den sie ein „Sekundärdrama“ nennt, denn der Text kann nicht für sich allein stehen, sondern soll zusammen mit und parallel zu Goethes „Urfaust“ gespielt werden: eine typische Jelinek-Wortkaskaden-Polyphonie, die sich an dem schauerlichen Fall des Josef Fritzl entzündet, der seine Tochter seit dem 11. Lebensjahr vielfach vergewaltigte, sie schließlich 24 Jahre lang in einer Kellerwohnung unter seinem Haus im österreichischen Amstetten gefangen hielt und sieben Kinder mit ihr zeugte. Für Jelineks Text Anlass zu wilden Anklagen, saloppen Erlebnisschilderungen aus der Perspektive der Tochter und bizarren Assoziationen, die die Gewaltförmigkeit des im „Urfaust“ beschworenen bürgerlichen Mann-Frau-Verhältnisses zur Kenntlichkeit entstellen und die geschlossene Dramaturgie des „Primärdramas“ aufsprengen.

So ein Verfahren der Intertextualität auf die Oper zu übertragen und den Jelinek-Text dazu noch mit weiteren Sekundär- (oder Tertiär-)Texten anzureichern – Schopenhauers pseudowissenschaftlich frauenfeindliche Sottisen, Auszüge aus Prozessakten, Schillers Ballade „Die Kindsmörderin“ –, das ist allerdings hochriskant. Denn damit wird die geschlossen Musikdramaturgie radikal aufgebrochen. Um das zu bewerkstelligen, hat Berger dem „Faust“-Sängerensemble zwei Schauspieler hinzugesellt, die im Programmheft schlicht „Er“ und „Sie“ genannt werden. Teils doubeln sie die vokalen Protagonisten, teils werden sie ihnen aber auch zu Spielpartnern und mischen sich mit ihren gesprochenen Sekundärtexten in die Handlung ein – und in die Musik.

Und das ist der eigentliche Coup dieses Abends. Berger und und der Heidelberger GMD Grandy belassen es auf der musikalischen Ebene keineswegs dabei, Gounods Urfassung wiederherzustellen und die neuen Sprechtexte – quasi entsprechend dem ursprünglichen Opéra-comique-Modell – in die Pausen zwischen den geschlossenen Nummern zu platzieren. Nein – sie unterbrechen auch die Nummern immer wieder, bauen sie um, verschieben sie an andere Orte im Ablauf, Text wird über die Musik gesprochen. Marguerites „Juwelen-Arie“ unterbricht den Faust-Monolog, dessen zweiter Teil samt Teufelspakt wird später nachgeliefert. Das Lied vom Goldenen Kalb kommt erst nach der Pause. Valentins Bühnenleben war noch nie so kurz wie hier. Alle Hits sind da, aber selten dort, wo man sie erwartet. So stiften Berger und Grandy immer wieder verblüffende, überrumpelnde, erheiternde Bezüge zu den Texten und schaffen damit letztlich aus dem Material von Gounod, Jelinek, Schopenhauer, Schiller und anderen ein neues Musiktheater-Werk. Eigentlich war diese Premiere eine Uraufführung. Und das so geschaffene Werk ist stark – vor allem vor der Pause, wo die Assoziationen und sinnstiftenden Kurzschlüsse wunderbar anarchisch irrlichtern. Der zweite Teil zeigt eine Art weiblicher Solidarisierung und Emanzipation – da lassen dann die Frauen die Männer tanzen, „Er“ mutiert zur verbiesterten Drag-Queen, die im rotglitzernden Pailletten-Kleid erleiden muss, was er zuvor anderen (Frauen) angetan hat, und die Ladies zeigen ihm, was ’ne weibliche Harke ist. Aber das wirkt etwas brav und narrativ, sehr plausibel und Travestie-kabarettistisch zwar, aber viel schwächer als das Vorhergehende.

Die Videos von David Martinek schaffen an diesem Abend immer wieder Kurzschlüsse in die mediale Gegenwart, zu den Bachelor-Shows und dem Infotainment der Privatsender. Siébel könnte als Heidi-Klum-Parodie durchgehen, auf einem Fernseher erscheinen Szenen aus dem berühmten Gründgens-„Faust“. Und wie die Heidelberger Musiker und Schauspieler das umsetzen, ist schlicht grandios. Magdalena Neuhaus in der Sprechrolle der „Sie“ katapultiert ihre Wortkaskaden mit einer wunderbar kecken, überbordenden Naivität ins Geschehen, so dass die Textscheffelei nie dröge wird. Raphael Rubino macht als „Er“ vor allem den Josef Fritzl und strahlt eine untergründig brutale, biedere Dorfpastoren-Liebenswürdigkeit aus. Und die Sänger stellen sich der ungewöhnlichen Herausforderung des Singens in einer völlig dekonstruierten Musikstruktur mit Bravour. Gut sind sie alle. Hye-Sung Na singt die Marguerite mit quecksilbriger Brillanz, ihr lyrischer Koloratursopran verfügt trotz eines schlanken und klar fokussierten Klangs über beachtliche Reserven, die die junge Sängerin gekonnt ausspielt. Martin Piskorski entgleist zwar sein hohes C, aber er singt einen sehr idiomatischen Faust mit weichem, trotzdem gut konturiertem und klarem Tenor. James Homann ist ein markig-finsterer, beizeiten kraftvoll auftrumpfender Méphistophélès, Oleksandr Prytolyuk singt den Valentin mit dunkel-markantem Bariton, Shahar Lavi gibt den Siébel mit jugendfrisch strahlendem Mezzo.

Einen ganz entscheidenden Anteil am Gelingen dieses Abends aber hat Elias Grandy – nicht nur, weil er die Dekonstruktion der Partitur mit großer Kompetenz mitgetragen und umgesetzt hat, sondern auch, weil er trotz der so geschaffenen ungewohnten und damit heiklen Umstände die Musik mit Einfühlsamkeit, Stilsicherheit und Differenzierung interpretiert und ihr damit immer wieder zu ihrem Recht verhilft. In Grandys Umsetzung mit dem hochkultiviert spielten Philharmonischen Orchester Heidelberg und dem von Ines Kaun vorzüglich einstudierten Chor setzen Gounods melodischer Schmelz und seine sinnlichen Farbigkeit einen entscheidenden Kontrapunkt zu Jelineks spottsüchtiger Wut: Sie halten eine Sehnsucht nach Heilung und Erlösung wach, die auch dann das Herz rührt, wenn der Verstand an diesem Abend dem finalen „Gerettet“ nicht mehr trauen mag. Das Publikum war begeistert von den musikalischen Protagonisten, die Buhs für das Regieteam hielten sich angesichts der gegebenen Umstände in erstaunlich engen Grenzen. Die Heidelberger Opernfans wissen inzwischen, wie Musiktheater auf der Höhe der Zeit geht – und sind bereit, mitzugehen.