Foto: Szene aus „Das Urteil von Nürnberg” in Esslingen © Patrick Pfeiffer
Text:Manfred Jahnke, am 13. Januar 2019
Wo es wieder Mode wird, stolz als „aufrechter Deutscher“ alles „Fremde“ nach Möglichkeit auszumerzen, da tut Besinnung auf Geschichte gut. Es ist daher sicher kein Zufall, dass die Esslinger Dramaturgie das Drehbuch zu einem 1961 entstandenen Film aufgreift: „Das Urteil von Nürnberg“ in der Regie von Stanley Kramer. Wenn er sich dabei auf die „Juristenprozesse“ ab 1947 beim Nürnberger Tribunal bezieht, verwandelt der Autor Abby Mann reale Fakten in fiktive Geschichten und Figuren. Richter Haywood, aus der tiefsten amerikanischen Provinz nach Nürnberg als Richter beordert, versucht herauszufinden, was deutsche Juristen, die in der Weimarer Republik über eine hohe Reputation verfügten, dazu brachte, das wichtige Gut der „Würde des Menschen“ zu verachten. Reinhold Ohngemach spielt die Neugierde dieses Richters groß aus, zieht sich immer wieder in ein kindliches Staunen zurück. Er versucht zu begreifen, was nicht zu begreifen ist, will nicht Rache üben, sondern verstehen. Aber, so wie die Angeklagten „nicht schuldig“ schweigen, so rennt Haywood auch in der Stadt gegen die Mauern des Schweigens. Selbst in den Begegnungen mit der Generalswitwe Bertholt, im Film von Marlene Dietrich gespielt, in Esslingen von Sabine Bräuning als strenge vornehme Dame vorgeführt, erfährt er nichts über den Alltag im dritten Reich.
Gerichtsverhandlungen auf der Bühne, die die Schuld der Angeklagten zu untersuchen haben, sind nicht nur nach Brecht von hoher dramaturgischer Spannung, weil man herausfinden möchte, wie in dem Dreieck von Ankläger, Verteidiger und Richter Recht gesprochen werden kann. Aber schon der Film zeichnet sich eher durch Schauspielerleistungen, denn durch inhaltliche Spannung aus. Christof Küster, für seine konsequenten Zugriffe auf Stoffe bekannt, lässt in einer Esslinger Inszenierung alle Spieler in einem Einheitskostüm (Ausstattung: Frank Chamier) auftreten: graue Hosen, graue Westen, manchmal auch ohne, aber mit Hosenträgern. Aus diesem Grau ragt nur eine Figur heraus, die „Dolmetscherin“ in eine Art Pepitakleid, mit einer schwarzen Binde vor den Augen wie Justizia, ein Paar abgetragene Stiefel über die Schulter und eine Klarinette in der Hand. „Blind“ schreitet sie durch diese graue, undurchsichtige Welt. Aber mehr noch, Sofie Alice Miller „dolmetscht“ zwischen Handlung und szenischer Realisation, sie rezitiert die Regieanweisungen oder gibt kurze Hintergrundkommentare. Wenn der Ankläger, von Markus Michalski schneidig angelegt, beispielsweise den Film über die Konzentrationslager vorführen lässt, dann sind keine Projektionen zu sehen, sondern alle Darsteller*innen starren in den Zuschauerraum. Auch sonst werden die von Miller angesagten Handlungen pantomimisch angedeutet, aber nicht ausgeführt.
Das Grau, das alles verschlingt, setzt sich auch im Bühnenbild von Chamier fort, mehrstufige, „felsartig“ wirkende Stufenpodeste, an den Seiten jeweils in zwei Ebenen übereinander je fünf senkrechte Neonröhren. Alle Spieler sind ständig auf der Bühne, wer nicht spielt, wird zum beobachtenden Zuschauer. Aber es gibt nur ausnahmsweise sichtbare Reaktionen auf das, was in der Szene geschieht. Ins Zentrum sollte sich eigentlich der junge Verteidiger des Felix Jeiter spielen, der mit der Vorführung der Opfer sie noch einmal erniedrigt, aber Jeiter agiert sehr steif, jenen dämonischen Zug seiner Rolle, die die größten Mörder als tapfere Patrioten zu verkaufen versucht, kaum streifend. Es scheint, dass Küster alle Darsteller*innen, die ja ein graues Kollektiv bilden, zur Zurückhaltung aufgerufen hat. In der Tat sind emotionale Ausbrüche genau gesetzt (und werden gleich wieder eingefangen), wie auch die Musik, die wohltuend nur an wenigen entscheidenden Situationen aufklingt, aber Anfang auch live, von Miller auf ihrer Klarinette.
So bleibt auch der Ausbruch von Oliver Moumouris als der Jurist Ernst Janning verhalten, eher dozierend, als er endlich sein Schweigen bricht, weil hier eine Zeugin, von Barbara Dussler anrührend ausgespielt, wieder vom Verteidiger würdelos vorgeführt wird. Bei diesem Auftritt wird offensichtlich, worauf Küster hinauswill: die Argumentationsketten, die Rhetorik des „stolzen Deutschen“ offen zu legen, also eine Konzentration auf die Sprache. Das schafft das Ensemble – hier wären noch zu nennen: Achim Hall, Dietmar Kwoka, Ulf Deutscher, Martin Theuer, Markus Michalik und Stephanie Biesolt, aber das geht auch auf Kosten der Spannung. Kürzungen der Dramaturgie wären angesagt, verwunderlich auch, wie wenig Informationen das Programmheft von Marcus Grube bietet.
Die Angeklagten werden zu lebenslänglicher Haft von Haywood verurteilt. Da existiert schon die Berliner Luftbrücke (Beginn am 24.Juni 1948), der „kalte Krieg“ beginnt. Da wird auch der Ankläger unter Druck gesetzt: Man braucht nun dringend die Deutschen als Bündnispartner gegen das sowjetische Bollwerk. Ach ja, die meisten verurteilten Angeklagten wurden nach kurzer Zeit wieder entlassen und konnten ihre furchtbare Arbeit an den Gerichten der Bundesrepublik fortsetzen, so die bittere Erkenntnis vermittelnd, dass Recht und Gerechtigkeit nichts miteinander zu tun haben.