Foto: Martin Schläpfer: verwundert seyn – zu sehn . Marcos Menha, Ann-Kathrin Adam © Gert Weigelt
Text:Bettina Weber, am 23. Januar 2015
Wo Traum, Vergangenes und Zukunftsvision miteinander vertäut werden, nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, da bieten sich dem Zuschauer schier unzählige Assoziationsmöglichkeiten. Für seine neue Uraufführung „verwundert seyn – zu sehn“ im Rahmen des Dreierabends „b.22“ am Theater Duisburg hat Martin Schläpfer ein solches Ideenspektrum gleich auf mehreren Ebenen geschaffen: Kaum entscheiden kann man sich als Zuschauer, ob gerade die Musik in Bewegung übertragen, eine Emotion transportiert wird oder eine konkrete Begegnung stattfindet, sodass Schläpfers Choreographie erwartungsgemäß in genau dem Maße abstrakt ist, als sie dem Betrachter einen begehbaren Weg auf dem schmalen Grat zwischen assoziativer Offenheit und definierter Aussagekraft ebnet. Ein Balanceakt, der ihm hier gelungen ist.
Die titelgebenden Worte hat Schläpfer einer vielthematischen Schriftensammlung Arthur Schopenhauers entnommen und daraus tänzerische „Scenen eines Lebens“ entwickelt, die von Hoffnungen, Sehnsüchten, Enttäuschungen, Retrospektiven und vielem mehr erzählen. Der Tänzer Marcos Menha erfährt als Protagonist in zahlreichen, fließend ineinander übergehenden Szenen zwischenmenschliche Nähe und Enge, Träume, Zurückweisung und Anziehung, verkörpert durch die übrigen Tänzer: Chidozie Nzerem und Ann-Kathrin Adam beispielweise, die den akzentuiert tanzenden Menha zu Anfang mit kraftvollen Umarmungen und Drehungen umgeben. Maßgeblich strukturierend wirkt natürlich auch die Musik, die der ausgezeichnete Pianist Denys Proshayev präzise gestaltet: Zu Beginn die exzentrische, aufgewühlte 6. Klaviersonate Alexander Skrjabins; im zweiten, im Gegensatz dazu leichten und hoffnungsvollen Abschnitt die Grande Valse di bravura „Le bal de Berne“ für Klavier von Franz Liszt, in der eine großartig anmutige Louisa Rachedi mit sachten, beschwingten Pirouetten Marcos Menha wie im Traume verführt; und zuletzt die 10. Klaviersonate Skrjabins, die durch ihren mystischen, sehnsüchtigen Charakter auch in Schläpfers Tanz vielleicht die meisten Assoziationsfelder eröffnet.
Vergleichsweise „konkret“ wirkt da der dritte Teil von „b.22“, „ein Wald, ein See“. Diese weitere Schläpfer-Kreation des Abends stammt noch aus Mainzer Zeiten. Über den Köpfen der Tänzer schwebt ein massives, welliges und in langen Streben mit der Decke verbundenes Bühnenbild-Gestänge, das gleichermaßen Wasser und Bäume symbolisiert. Auf dem atmosphärischen, live erzeugten Soundteppich von Paul Pavey wechseln dazu die Tänzer von wilden, fast rituell wirkenden Tableaus breiter Sprünge in bewusst verlangsamte Duette und Einzelfiguren, die den immer wieder auf Spitze agierenden Tänzern äußerste Präzision abverlangen.
Inmitten dieser beiden inhaltlich stark aufgeladenen Schläpfer-Ballette sorgt mit „Moves“ eine Choreographie des 1998 verstorbenen Jerome Robbins, die Ben Huys mit den Tänzern neu einstudiert hat, für eine Art neutralisierende Zerstreuung und Ruhe im wahrsten Sinne des Wortes: Es handelt sich um ein „Ballett in Silence“. Ursprünglich war die Abwesenheit der Musik der Situation geschuldet, dass der Komponist abgesprungen war. Doch Robbins hat aus diesem vermeintlichen Nachteil heraus eine besondere, dennoch stark rhythmisierte Arbeit erschaffen. In geometrischen Formationen bespielen die Tänzer mit Pliés, Sprüngen und Arabesques die Bühne. Dabei sind sie bei aller Stille – sieht man einmal vom Hüsteln und Räuspern im Zuschauerraum ab – zu einer ungeheuren, gegenseitigen Aufmerksamkeit gezwungen: Wie an einer Schnur gehen die Bewegungen von einem Tänzer zum anderen über, die sich durch Klopfgeräusche den Takt vorgeben, sodass das gemeinschaftliche Agieren der Tänzer auf eine beachtliche Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
Es ist die klarste und vielleicht am leichtesten zu konsumierende Arbeit des knapp dreistündigen Abends. An Martin Schläpfers ästhetischer Dichte mag sich derweil mancher Zuschauer ein Stück weit abarbeiten müssen, zumal der Ballettdirektor der Deutschen Oper am Rhein von seinem Publikum durchaus eine Menge Interpretationsbereitschaft fordert. Doch wer den Abend schlicht als freundliche Einladung versteht, vorübergehend aus der inhaltlichen Tiefe zu schöpfen, aus der heraus seine Arbeiten entstehen, dem fehlt es an nichts.