Auch die akustische Situation unterstreicht die Distanzierung. Das Orchester auf der Bühne erklingt weit hinten, die Sänger vorn dagegen sind uns nah, gleichsam herausgehoben aus ihrer organischen instrumentalen Einbettung. Dadurch wird die Sogwirkung von Wagners Musik unterlaufen. Man hört viel genauer, dass und wie es gemacht ist. Dabei kommt das enorm differenzierte Spiel, zu dem der in seiner letzten Bremer Spielzeit amtierende GMD Markus Poschner die Bremer Philharmoniker (und später auch den von Barbara Kler hervorragend einstudierten Chor) anleitet, außerordentlich voreilhaft zur Geltung. Und es ist bewunderungswürdig, wie sich die Sänger auf die wechselnden Abstände des auf einem Wagen vor- und zurückfahrenden Orchesters einstellen und ihre Dynamik entsprechend kalibrieren. Poschner outet sich als Anhänger von Pierre Boulez, unterbietet womöglich noch dessen Bayreuther Schnelligkeitsrekord. Da klingt manche Passage der Gralschöre wie ein zielstrebiger Marsch, manches schwer lastende Vorspiel wie eine muntere Sinfonische Dichtung. Und das Singgetändel der Blumenmädchen würde in einer Offenbach-Oper kaum auffallen. Das hört man gern. Allerdings wirken die Sänger in einigen Passagen auch ganz schön gehetzt. Das hört man nicht so gern.
Patrick Zielke ist ein junger, ein strotzend vitaler Gurnemanz von enormer Durchschlagskraft und guter musikalischer Gestaltung, er differenziert dynamisch klug, artikuliert geradezu vorbildlich. Aber ist er damit wirklich ein Gurnemanz? Seinem bolzengrade tönenden Wuchtbass fehlt, zumal in Poschners hohen Tempi, die rhetorische Interpunktion, der gleichsam nachdenkliche Erzählerton, das entspannte Parlando. Auch Claudio Otellis Amfortas zerfällt im ersten Aufzug zu sehr zwischen überforciertem Klageton und siechender Zurücknahme – sein großes Lamento in der Schlussszene aber ist einer der bewegendsten Augenblicke dieses Abends. Chris Lsyack singt einen präsenten Parsifal mit metallisch stabilem Tenor, der allerdings kaum Nuancen und Abschattierungen kennt. Aufhorchen lässt die Besetzung des Klingsors, denn Christian-Andreas Engelhardt ist ein Tenor, der hier mal nicht den wüsten Finsterling gibt, sondern den eleganten, in der Stimmführung sehr differenzierten Verführer. Und Nadine Lehner ist sowohl vokal wie optisch eine verführerische Kundry mit sinnlich leuchtendem Sopran, der sich ohne Registerbruch und vollklingend die Tiefen der Partie erschließt und in der Höhe gleißend, manchmal mit ein bisschen viel Tremolo, auflodern kann. Sie beglaubigt aber vor allem das Mädchenhafte dieser ja oft groß besetzten Partie und findet dafür schlanke, leise Töne. Eine wunderbar differenzierte Interpretation!
Wie diese Sängerdarsteller Štormans dialogischen Ansatz im ersten Aufzug schauspielerisch beglaubigen, ist großartig. Natürlich singen sie ihre Partien, wie sie in der Partitur stehen. Aber szenisch laufen dazu permanent Meta-Kommunikationen ab. Kundrys Verführung des Amfortas zum Beispiel scheint sich parallel zu Gurnemanz‘ Andeutungen zu wiederholen, zwischendurch hat sie auch mal einen durchtriebenen Blick für den Göring-Klingsor, und man ahnt, dass diese Frau sowohl Leidende wie auch Luder ist. Parsifals Landung per Fluggeschirr im Lohengrin-T-Shirt mit rotem Herzballon ist ein augenzwinkernder Coup: der reine Tor als tumber Collegeboy in Shorts. Als Kundry bei der Erzählung von Herzeleides Tod eine Schmerzensgeste macht, zerdrückt Parsifal seinen blutroten Fruchtsmoothie im Plastikbecher und produziert sich so eine „Wunde“ genau an der Stelle, an der Amfortas der Speer traf. Und zur Gralszeremonie leuchtet ein schmales weißes Lichtband über den Köpfen der Sänger auf, das Bühne und Auditorium umschließt: Wir alle gemeinsam in der Gralsburg!
Das Problem der Inszenierung ist jedoch, dass sie zwar gute Ideen bringt, die meisten davon dann aber unaufgeräumt im Bühnengeschehen herumliegen lässt und am Ende eher an den weniger guten festhält. Schon im ersten Aufzug beispielsweise ist Parsifal nicht ahnungsloser Beobachter, sondern, jetzt in ritterlichem Brustpanzer und mit eisernem Lorbeerkranz, der Held der Gralszeremonie: Alle drängen sich an ihn heran, berühren ihn und ziehen dann glücklich von dannen. Die gescheiterte Mitleidsbeziehung zu Amfortas jedoch, die Symbolik von Gral und Wunde, nichts davon wird realisiert. Im zweiten Akt sitzt das Orchester dann im Graben, die Figuren sind auf der Bühne und nun in ihren Rollen, und das Wirrwarr der Notenpulte und Stühle steht nicht schlecht für den Zaubergarten ein. Klingsor gibt den Showmaster eines flott inszenierten Revue-Tingeltangels mit den Blumenmädchen als Chorusline. Das ist gut gemacht und unterhaltsam. Aber es häufen sich die Einfälle aus dem Fundus der Beliebigkeit. Klingsor hat einen schneeweißen Harvey/Donny-Darko-Hasen als dienstbaren Geist. Was Parsifal wirklich vor Kundry zurückschrecken lässt, ist weniger seine Mitleids-Einsicht infolge des Kusses als vielmehr sein Interesse an vier Jünglingen, jugendliche Alter Egos seiner selbst in Shorts und Shirts, die sich bald als gewalttätige Handlanger entpuppen und seinem Siegeszug einen faschistoiden Anstrich geben. Ach, ja, und statt des Speers steht Klingsor nur ein Stockdegen aus seinem Marschallstab zur Verfügung, weshalb er Parsifal leider nur mit der Nebelmaschine anpusten kann. Das haut so einen Helden natürlich nicht um.
Im dritten Aufzug sitzt das Orchester dann wieder auf der Bühne, damit ist die Gralstempel-Situation wieder hergestellt, aber da die Sänger jetzt in ihren im zweiten Aufzug gefundenen Rollen bleiben, fällt diesmal der Metadialog weitgehend aus. Stattdessen sieht man Posen, mit denen die Handlung konterkariert wird. Kundry wird von den bösen Jungs abgestochen und die weiteren Dialoge werden an ihr vorbei bugsiert. Gurnemanz wird als machtloser Trottel aus einem obsoleten Herrschaftsmodell abserviert, und Parsifal, der neue Mensch, steht als ragender Held mit emporgerecktem Schwert und goldenem Flügelhelm ewig lang vorn an der Rampe, läppisch ironisiert dadurch, dass ihm das Schwert mit den vielen Minuten erkennbar schwer wird. Alles, die Leidensklage des Amfortas ebenso wie das Erlösungspathos des Finales, wird damit auf eine einzige Pose nivelliert. So entzaubert Štorman die Utopie des „Parsifal“. Das aber auf diese Weise zu tun ist wahrlich keine Kunst, sondern nach den letzten Jahrzehnten ideologiekritischer Wagner-Rezeption nur noch kleine Münze. Der „Parsifal“ ist ein zweifellos schwieriges Werk: in sich äußerst komplex, in vielen Zügen unsympathisch und im historischen Kontext schon durch Wagners antisemitische „Regenerationsschrift“ und dann durch die Rezeptionsgeschichte in Bayreuth und NS-Deutschland bis zur Unkenntlichkeit überlagert durch üble Deutungsmuster. Es gibt viele Gründe für einen Regisseur, ja, es ist heute vermutlich sogar zwingend geboten, dem mit einem dekonstruktiven Ansatz zu begegnen statt mit einer ungebrochenen Bühnenerzählung. Doch wer den „Parsifal“ dekonstruieren, ihn gar entlarven will, der muss ihm auf Augenhöhe begegnen, sowohl ideologiegeschichtlich wie auch werkstrukturell. Štorman gelingt das nicht. Im Endergebnis reproduziert er Klischees und Ressentiments.
Zwei Tage vor der Premiere erschien in der Bremer taz ein meinungsstarker Artikel, der über weite Strecken die Antisemitismus-Vorwürfe der letzten 40 Jahre gegen Wagner aneinanderreiht und auf den „Parsifal“ projiziert. Er gipfelt in der Forderung: „Ein tätiger, blutideologischer Antisemitismus, Verbrechen gegen die Menschheit, das sind beobachtete dokumentierte Folgen dieser Kunst. Deswegen wäre die Verbreitung dieses Werks zu hemmen. (…) Es an staatlich subventionierten Opernhäusern für 100 Jahre zu sperren, wäre eine Maßnahme, oder wenigstens, es verpflichtend in ein didaktisches Korsett zu packen, das ekstatische Anwandlung von vornherein zerdrückt.“ Darüber sollte sich der Autor vielleicht mal mit dem Dirigenten jüdischer Abstammung und großen Wagnerverehrer Daniel Barenboim unterhalten. Oder mit dem Politologen und Wagnerforscher Udo Bermbach, der in den letzten Jahren Wegweisendes zu Wagners und dem Bayreuther Antisemitismus veröffentlicht hat. Fatal in Bezug auf die Bremer „Parsifal“-Inszenierung ist nun aber, dass Štorman die taz-Vorwürfe zumindest in Teilen und Andeutungen bestätigt, wenn er das Ende als Sieg eines in den Armen etwas muskelschwachen Herrenmenschen interpretiert. Wenn das alles wäre, was im „Parsifal“ steckt, bliebe natürlich der Ruf nach Zensur dennoch ein Unsinn mit Schaum vorm Mund. Warum man den „Parsifal“ dann allerdings inszenieren muss, wüsste ich auch nicht. Aber zum Glück ist das Werk klüger als sein Regisseur.