Es ist kein Zufall, dass wir wenig über die Gefühle der Edith nach 1946 erfahren, weil diese in ihre Geschichte eingeschrieben sind. Lakonisch wird in kurzen dokumentarischen Umrissen die Geschichte der beschämenden Wiedergutmachungsstrategie der baden-württembergischen Behörden vorgeführt. Erst fast 20 Jahre nach Kriegsende wird 1964 anerkannt, dass sie ihre Kindheit und Jugend unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben musste. Und wir wollen auch nicht über die beschämenden Entschädigungssummen reden: ein bitterböses Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte, die auch viel über die Kontinuitäten einer Beamtenschaft erzählt, die ihre Arbeitspraxis aus dem Dritten Reich in die Bundesrepublik hineingetragen hat. Dass Edith es emotional nicht schafft, bei dem Verlegen der Stolpersteine in Bruchsal 2017, die die Geschichte ihrer Familie dokumentieren, dabei zu sein, erzählt etwas, ohne dass man es aussprechen muss. Das ist auch die Stärke der Inszenierung von Petra Jenni: Sie erzählt und überlässt es den Zuschauern, dazu eine Haltung und Gefühle zu entwickeln. Sie führt vor und das mit einfachen theatralischen Mitteln. Thilo Schwarz hat dafür einen Raum geschaffen, in dem im Hintergrund ein großer Kreis dominiert, auf den Videos projiziert werden können (historische Fotos oder Live-Videos). Darüber hinaus gibt es zehn hockerartige Gestelle, die an Kisten in einem Archiv erinnern. Sie werden immer neu geordnet, um die verschiedenen Orte anzudeuten.
Groß aufspielendes Ensemble
Diese Raumkonzeption mit ihren schnellen Wechseln ermöglicht es Petra Jenni ,mit ihrem Ensemble ein schnelles Spieltempo zu entwickeln, zumal mit Ausnahme von Hannah Ostermeier als Edith alle mehrere Rollen spielen. Die Wechsel von der einen zu der anderen Figur verlaufen – sichtbar für das Publikum – sprunghaft direkt. Nur wenige gestische Andeutungen genügen, um eine Figur zu bauen. Das Ensemble agiert stets auf der Bühne, Mitglieder, die nicht in einer Szene mitwirken, sitzen dann auf einem der Hocker am Rande und schauen den Spielenden konzentriert zu und stärken so auch für das Publikum die Konzentration.
Hannah Ostermeier im blauen Kleid (Kostüme: Kerstin Oelker) verkörpert eine anrührende Edith, eine, die mit großen Augen staunend in die Welt schaut. Ohne Gesten der Auflehnung, ohne emotionale Ausbrüche spielt und erzählt sie die Geschichte eines mit Beginn der Handlung dreizehnjährigen Mädchens: Der Tod gehört in ihre Welt, es bleibt keine Zeit für den Schmerz. Das spielt Ostermeier groß aus. Magdalena Suckow stellt unter anderem Julie, die Mutter, dar, nicht abgehärmt, nicht vorwurfsvoll, sondern voller Sorge für ihre Kinder. Frederik Kienle beeindruckt als der jüngere Bruder Heinz durch die Ernsthaftigkeit seiner Darstellung und seine Präsenz. Kim Vanessa Földing ergänzt dieses groß aufspielende Ensemble mit kleinen Rollen.
Überregionales Nachspielpotenzial
„Mädchen mit der Hutschachtel“ ist eine eindrückliche Inszenierung geworden, die nicht mit Betroffenheiten agiert, sondern auffordert, Haltung zu beziehen. Lisa Sommerfeldt ist dabei ein Stück gelungen, dass trotz oder wegen seines engen regionalen Bezugs auch anderswo nachspielbar ist: eine solche Geschichte hat sich 1940 nicht nur in Bruchsal ereignet. Dass diese Regionalität überwunden werden kann, resultiert auch daraus, dass die Autorin mit Leitmotiven arbeitet, wie den Bezug auf das Schneewittchen-Märchen. Der Ausruf: „Der Mond über Manhattan, der Mond über Gurs, der Mond über Bruchsal, der Mond über Auschwitz“ gliedert die Handlung, die mit der Frage abschließt: „Do you like to talk to Holocaust survivers?“