Foto: Die Krieger suchen Wärme in Roger Vontobels Bochumer Inszenierung der "Nibelungen". © Arno Declair
Text:Andreas Falentin, am 4. Oktober 2013
Der eiserne Vorhang ist unten. Davor stehen, auf kleinem Podest zusammengedrängt, König Gunther und seine Sippe. Man singt die ersten Strophen des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes. Alle tragen Schwarz. Roger Vontobel lässt Hebbels so spröden wie poetischen elfaktigen Dreiteiler in der Mitte beginnen, nach Siegfrieds Tod, in einer Atmosphäre dumpfen Brütens. Auf einem durchs Parkett gehenden Steg erscheint ein weiß gekleideter, alter Mann. Markgraf Rüdiger wirbt um Kriemhild im Auftrag König Etzels und alles gerät in Bewegung. Schnell entwickelt sich das die unermüdlich erzählende, fünfstündige Aufführung tragende Spannungsverhältnis zwischen Kriemhild und Hagen in einer gut nachvollziehbaren Rückblendenstruktur. Jana Schulz und Werner Wölbern tragen ein Schauspielerduell auf höchstem Niveau aus und lösen sich aus allen Rollenklischees. Schulz‘ Kriemhild behält über den ganzen Abend etwas fast verletzend Verletzliches. In Rollen gepresst, als Königstochter, Ehefrau, Mutter, Witwe, Königin, sucht sie verzweifelt ihre Individualität, ihre Ideale, bricht aus ihren traumatischen Rachephantasien immer wieder aus in die Liebe zu ihrer Familie. Dagegen setzt Wölbern einen Mörder, der so gar kein Bösewicht ist, sondern ‚nur‘ durchaus skrupulöser Realpolitiker und vor allem Beschützer eines Königs (passend kraftlos-schwammig mit gelegentlichen Energieschüben: Florian Lange) und seiner Familie. Die Szene, in der Hagen Kriemhild dazu bringt, die Stelle von Siegfrieds Verwundbarkeit zu verraten, ist von seltener Zärtlichkeit. Hier, wie an vielen anderen Stellen, gelingt etwas, was Seltenheitswert hat, im aktuellen Theater: unaffektierte, überraschend warmherzige Menschendarstellung.
Um diese heraus zu präparieren, werden viele Elemente in Hebbels Text zurückgedrängt oder gar gestrichen; der sperrige Geschichtspessimismus, die durch die historische Ansiedlung in einer Zeitenwende, der Christianisierung Europas, erklärte Orientierungslosigkeit der Figuren in einer sich verändernden Welt, vor allem aber die mythisch-visionären Textpassagen und deren Exponenten in der Figurenkonstellation.
Das Konzept geht auf, weil Claudia Rohners funktionales Hallenbühnenbild den Schauspielern viel Raum gibt und das Bochumer Ensemble versteht es, diesen zu nutzen. Da gibt Lore Stefanek mit schön ausgestellter Hofschauspielerattitüde die Burgundenmutter Ute als Bewahrerin einer Dynastie, überbordend liebevoll und gleichzeitig fast staatsräsonsüchtig und Heiner Stadelmann und Matthias Redlhammer nutzen die Textumstellung, die ihren Figuren Rüdiger und Etzel mehr Bühnenpräsenz und Entwicklungszeit gibt, zu scharf umrissenen Porträts.
In zweifacher Hinsicht Opfer der gewählten Umsetzung sind allerdings die „letzten Riesen“ Siegfried und Brunhild. Beiden Figuren fehlt die mythische Lagerung, die Hebbel ihnen anstelle einer sozialen und politischen Rolle mitgegeben hat. Bei Vontobel werden sie zu funktionalen Figuren, zu Beschießungen eines Systems, um den Grundkonflikt zu verdeutlichen und die Geschlechterkampfkomponente der Handlung zu befeuern. Der golden bemalte Felix Rech gestaltet diese Außenseiterrolle bei seinem ersten Auftritt so herzzerreißend wie komisch, schreitet aber danach in seinem herausstechendem Snakeskin-Jacket einfach imposant durch seinen Text. Seine große Erzählung ist weit weg vom Spannungsfeld der Aufführung. Sein Tod bestürzt nicht. Auch Minna Wündrich, silbern ausgestattet, tritt stark auf, auf dem hell erleuchteten Mittelsteg, der dem langen Abend so viel Intimität gestattet. Sie spielt und spricht kraftvoll und direkt, wirkt aber im Kontext der Aufführung wie eine schlichte Provinzschönheit.
Der Erfolg dieser oft spannenden, manchmal glanzvollen, immer unterhaltsamen „Nibelungen“ – Aufführung entscheidet sich in der letzten halben Stunde. Für das theatralisch kaum zu bewältigende Etzelhallen-Gemetzel findet Vontobel rationelle, aber bezwingende Bilder. Die das Schwert Balmung schwingende Kriemhild, die blutüberströmten Gunther und Hagen und der im weißen Hemd am Flügel sitzende Etzel verschwinden einfach im Blackout. Und alles ist vorbei.