Foto: Auf den Himmelsleitern. Die Tanz-Company des Theaters Heidelberg in "Hieronymus B. – Tanz durch Hölle und Paradies" © Kalle Kuikkaniemi
Text:Volker Oesterreich, am 19. Januar 2015
Der niederländische Renaissance-Künstler Hieronymus Bosch (1450-1516) interpretierte seinen Blick auf die Rätsel dieser Welt, auf alles Natürliche und Göttliche, auf Diesseitiges und Jenseitiges gern in dreiteiliger Form: Das Triptychon, das mit seinen Flügeln bestimmend für die sakrale Kunst ist, entfaltete in seinem Bildprogramm eine besondere Magie. Er bevölkerte es mit surrealistisch anmutenden Wesen und Traumdeutungen, womit er seiner Zeit um fast 500 Jahre voraus war. Genau diesem Konzept folgt die niederländische Choreografin Nanine Linning mit ihrer dreiteiligen Produktion „Hieronymus B. – Tanz durch Hölle und Paradies“. Erst geht’s, während einer Wandelperformance im Bühnenhaus des Heidelberger Theaters, um höllische Details, dann aus der Parkett-Perspektive ums große Ganze, und nach der Pause – das Publikum sitzt erneut auf seinen Plätzen – nähert sich die Company dem Reich des puren Ästhetizismus. Kunst gebiert Kunst – bloß mit total anderen Mitteln.
Wie schon in ihrem noch in Osnabrück entstandenen, aber nach Heidelberg exportierten „Requiem“ arbeitet Nanine Linning bei „Hieronymus B.“ erneut mit dem niederländischen Künstlerduo Les Deux Garcons (Michel Vanderheijden van Tinteren und Roel Moonen) zusammen. Mit ihren Kostümen und den auf Rollen montierten, von Tänzern belebten Skulpturen lenken die beiden zunächst den Blick auf infernalische Symbole und teuflische Kreaturen aus dem rechten Flügel des Triptychons „Der Garten der irdischen Lüste“, Prunkstück aus dem Prado zu Madrid. Gleich zu Beginn entdeckt man ein großes Ohr, pfeildurchbohrt und von einer Messerklinge bedroht. Aus seinem Gehörgang recken sich zwei Arme dem Besucher entgegen, dann erscheint der Kopf einer Tänzerin, schließlich windet sich ihr graziler Körper wie bei einer Geburt aus der Ohrmuschel. Sie und ihre zehn Kolleginnen und Kollegen wirken fast nackt, tragen nur eng anliegende, hautfarbene Trikots mit aufgenähten Gummibrustwarzen. Andere hocken auf fassartigen Rieseninsekten, stellen sich in einer sonnenbeleuchteten Vitrine zur Schau, bevölkern dreidimensionale (wiederum die Form des Triptychons aufgreifende) Altäre oder hängen an einem großen Schlüssel. Inmitten der Skulpturen, die allesamt Motive des niederländischen Malers zitieren, tanzt ein grünes, geflügeltes Insekt mit langem Trompetenschnabel, bis sich das Orchester in kleiner Besetzung in Zeitlupe aus der Versenkung erhebt. Mit Händels „Scherza infinda“ aus der Oper „Ariodante“ entführt es in ebenso magische Klangwelten, noch verstärkt durch den so klaren wie intensiven Countertenor Artem Krutko. Unter der musikalischen Leitung Dietger Holms werden über den gesamten Abend außerdem noch John Dowland, Alessandro Scarlatti und Henry Purcell zu einer sphärisch wogenden Zeitreise von der Renaissance über den Barock bis zur Moderne verwoben. Der Komponist und Arrangeur Michiel Jansen sorgte für die musikalischen Brückenschläge und weitere suggestive Soundeffekte.
Auch biografisch und welthistorisch umkreist die Choreografin Leben und Denken des Hieronymus B. In Schlagzeilen erfährt man, dass zwei Jahre vor seiner Geburt Johannes Gutenberg den Druck mit beweglichen Lettern erfunden hat, dass Leonardo, Michelangelo und Dürer ebenfalls die Kunst revolutionierten oder dass Kolumbus Amerika entdeckt hat – kurzum: dass Hieronymus Boschs Lebensreise eine Zeitenwende markiert. Der Mensch wurde als Maß aller Dinge erkannt. Und das drücken die beiden Tanzpaare auf der Bühne in vollkommener Harmonie aus, während sich Projektionen aus Boschs Bildern mit Großaufnahmen der Tänzerinnen und Tänzer mischen (Video und Fotografie: Roger Muskee, Erik Spruijit und Nanine Linning). In diesem zweiten Teil des Tanz-Triptychons sind es vor allem die sieben Todsünden und die vier letzten Dinge (aus Hieronymus Boschs gleichnamigem Tafelbild), die Nanine Linning thematisiert.
Im dritten Teil feiert sich die Company selbst. Sie formiert sich unter einem kahl-knorrigen Baum im phantastisch ausgeleuchteten Raum zu Schattenwesen (Lichtdesign: Loes Schakenbos), strebt als Menschenknäuel mit den Beinen und Armen nach oben, während der Countertenor stimmlich in überirdische Sphären entführt. Passend dazu erscheinen Himmelsleitern, auf denen die Ensemblemitglieder nach oben klettern, teils bewusst strauchelnd, teils zielstrebig. Eine Engelsgestalt gibt mit emporgestrecktem Finger die Richtung vor. Die Bewegungsabläufe werden dabei immer langsamer – bis die Darstellende Kunst als Tableau vivant in der Bildenden Kunst mündet. Frenetischer Beifall am Ende. Nanine Linning hat dem Heidelberger Theater einmal mehr einen Triumph beschert.