Foto: Ensembleszene © Joseph Ruben
Text:Jens Fischer, am 20. Januar 2018
Simone Sandroni zeigt „hautnah“ in Bielefeld
Es geht um den Haut verdeckenden, wärmenden und Körper inszenierenden Stoff. Eine Kulturgeschichte der Bekleidung als multimedialer Tanzabend. Und kurz ist „Hautnah“ auch lokal verortet mit konsumkritischem Humor, so dass die Zuschauer geradezu losprusten. Auf der Tanzfläche (Bühne und Kostüme: Eylien König)zu erleben sind eine quietschfidel als Individuum sich behauptende Bewegungskünstlerin bei einem ausgreifend eleganten Solo – und ein Volleyballfeld-großes, den Bühnenraum nach hinten begrenzendes, aber auch faltig über den Boden mäanderndes Laken. Das plötzlich wie ein freundliches Gespenst lockend aufwallt, verführt – und die fidele Tänzerin verschlingt.
Als hilflos traurig dreinblickende Elendswürmin wird sie wieder ausgespuckt. Neu geboren – verführt von der Macht des Tuches – scheint sie sich ihres Körpers zu schämen. Eine farbenprächtige Kostümfantasie erblüht nun als Fotoprojektion auf dem Leinwand gewordenen Stoff, die Frau stellt sich dazu, schmiegt sich hinein, scheint zu fliegen vor Glück – Schnitt: Plötzlich sind Dokumentarfilmaufnahmen der jüngsten Bielefelder Shopping-Mall-Eröffnung zu sehen. Menschen vielerlei Alters lassen sich, erregt vor Kaufneugier, von einem beanzugten Animationsclown zu albernen Countdown-Spielchen anregen, VIPs tun sich beim Bandschneiden wichtig, Security kann die Massen kaum bändigen, bis schließlich alle lossprinten dürfen, direkt in den billigsten der Billigheimer-Modekaufhäuser, um möglichst viel möglichst günstige Kleidung abzugreifen – diesem sozialen Fetisch. Wahnwitzige, kaum fassbare Realsatireszenen. Beispielhaft funktioniert so das Zusammenspiel in der vom Bundeskulturstiftungsfonds Doppelpass geförderten Produktion.
Die Stadttheatertänzer legen vor, die Fotografin Kathrin Ahäuser spinnt weiter mit ihren traumschönen Bildern, gibt ans Choreographiepersonal zurück und Filmemacher Konrad Kästner übernimmt. Die beiden Bildermacher gehören zum freien Künstlerkollektiv Recherchepool. Auch ein weiterer Pass gelingt über Eck: Das aus Geräuschen, kammermusikalisch gesetzten Tönen und elektronischen Zuspielungen komponierte Sounddesign der Gebrüder Vivan und Ketan Bhatti nimmt rhythmisch gern mal das Rattern der Spindel eines Webstuhls auf oder das maschinelle Getucker der Stoffproduktionsstätten, die Kästner gefilmt hat. So wird der Tanz strukturiert, immer wieder neu akzentuiert, mal forciert oder auch atmosphärisch eingekleidet. Und das alles im textilindustriegeschichtlich relevanten Bielefeld sowie an einem besonderen Aufführungsort, dem Tor 6 Theaterhaus, einer Produktionshalle auf dem Fabrikgelände des einstigen Nähmaschinenherstellers Dürkopp. Passt alles prima.
Aber Tanzchef Simone Sandroni will mehr. Die Historie des Bekleidungsmarktes „als Modellfall sozialen Strukturwandels“ darstellen: Technisierung, Effizienzstreben, Konsumismus. Zeigen, wie entwürdigend sich der Mensch peu à peu seiner Natur entfremdet, mit Textilien unablässig neue Bilder von sich entwirft und dabei zunehmend der Tyrannei der Mode erliegt. Diese evolutionäre Perspektive wird putzig entwickelt aus schöpferischer Stille heraus. Einem über den Boden wellenden Tänzer folgen amphibisch krabbelnde und schließlich immer affig aufrechter herumtollende Wesen. Erste Verkleidungen schmücken die hautfarbenen Trikots: Pelzwesten, Federanmutungen und Bademantel. Noch recht ungeordnet wird damit gegockelt, auf dass andere die Hennen spielen. Bewegungskonzepte entwickeln sich zu Paartänzen. Paradies der Tiere. Ausschwingende, fließend leicht verspielte Gruppenchoreografien heben an, ein Drehen und Wirbeln und Präsentieren wie im Eiskunstlauf. Immer wieder unterbrochen von ruckartigen Ausbrüchen. Wobei schon die asynchronen Ensembledarbietungen die Kritik an der Uniformität mit formulieren. Sind die Tänzer erstmal in unserer Zeit angekommen, tragen sie Sportklamotten und agieren auch gymnastischer zum perkussiver werdenden Klanggefrickel. Da Stoffe Täuschungsmanöver sind, wie Masken getragen werden, das Selbst verstecken, es herausputzen, prachtvoll becircen oder geschickt verstecken können, sind auch Tarnhosen, Schulterpolster, abendrobige Glanzeffekte und martialische Football-Brustpanzer zu sehen.
Dazu reichlich Begegnungen, die der #MeToo-Debatte gemeldet werden müssten. Berührungen kitzeln immer wieder latente Aggression hervor. Der Mensch, das Tier, kann sich letztendlich doch nicht verleugnen. Kleidungs- und Verhaltens-Firnis der Zivilisation sind halt dünne. Ratlosigkeit.
Epilog: Eine Primaballerina, kostümiert mit Babyzelt, trippelt auf Spitze vor Aufnahmen spinnenwebig bracher Textilmaschinerie – und sinkt zusammen. Wieder ein schönes, animierendes Bild. Wie viele an diesem Abend. Aber ein komplexes Doppelpass-Netzwerk über die komplette Aufführungsstunde zu knüpfen, das gelingt Sandroni nicht. Es bleiben Momente. Überzeugen können die Wechselspiele von kollektivierenden Gruppenszenen, als Remix modernen Tanzvokabulars in den Raum gezeichnet, und Szenen, in denen die Tänzer-Persönlichkeiten ihre Körpersprache als Möglichkeiten persönlichen Ausdrucks zeigen. Viel spannender als es die Modesprache wohl je sein wird.