Foto: Da fällt der arme Hoffmann (Jean-Noel Briend) auf ein schönheits-chirurgisches Wunderwerk (Fabienne Conrad als Olympia) herein. © Oliver Fantitsch
Text:Detlef Brandenburg, am 14. November 2015
Wenn unter dem Stichwort „Inszenierung“ der Name Florian Lutz auftaucht, darf man sicher sein, dass nichts vor der Regie sicher ist: weder die vertraute Werkgestalt noch der Zuschauer, der sich in Lutz’ Inszenierungen leicht mal auf der Bühne wiederfinden kann, wenn er nicht aufpasst. Dass ein Regisseur so radikal gegen die Konventionen von Rezeption und künstlerischer Form angeht, ist in der Oper noch immer die Ausnahme. Für Lutz aber ist der Diskurs mit dem Zuschauer allemal wichtiger als die „Aufführung“ des Werks.
Mit dem Werk ist es bei Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ ja ohnehin schwierig. Schon der Komponist selbst hatte mit verschiedenen Fassungen für verschiedene Opernhäuser in Europa spekuliert. Keine einzige davon hatte er fertiggestellt, als er am 5. Oktober 1880 verstarb. Die Uraufführung an der Pariser Opéra-Comique bot im Februar 1881 eine Entstellung der von Offenbach beabsichtigten Szenenfolge, die erste Druckfassung war ein Sammelsurium aus verschiedenen Spielfassungen. Erst in den 70er Jahren ordnete Fritz Oeser die Akte entsprechend Offenbachs ursprünglichen Intentionen, glättete aber vieles mit eigenen Arrangements, danach tauchten immer wieder Manuskripte mit neuem Material auf, 1993 beispielsweise ein apotheotisches Chorfinale … Und heute? Heute liegt ein Berg von Material vor, aus dem sich jeder Regisseur bedient, so gut er kann.
Florian Lutz kann das besonders gut. Sein Leitmotiv ist weniger die philologische Sorgfalt (er nimmt weitgehende Eingriffe auch in die gesicherten Werkabschnitte vor), vielmehr geht es ihm vor allem darum, der Künstleroper gleich noch einen weiteren Kunst-Doppelboden einzuziehen. Offenbachs Hoffmann muss ja erst mal von seiner Geliebten in dreierlei Gestalt dreimal enttäuscht werden, bevor er sich von seiner Muse Nicklausse in den Schoß der keuschen Poesie heimholen lässt. Lutz aber zeigt Hoffmanns Frauengeschichten nicht als reale oder imaginierte Erlebnisse des verhinderten Literaten Hoffmann, sondern als Kunstveranstaltung, die Hoffmanns Angebetete Stella ihm vorgaukelt. Die ist im Original-Libretto eigentlich als Mozarts Donna Anna auf der Opernbühne beschäftigt. Bei Lutz erledigt Stella diese Opernauftritte quasi im Nebenjob, um sich dazwischen als Darstellerin von Hoffmanns Geliebten zu verdingen. Wer da was warum inszeniert, bleibt allerdings etwas unklar, denn um die Regiehoheit in diesem Spiel der Geliebten streiten auch noch der schluffige Pop-Avantgardist Hoffmann und sein Gegenspieler, der schmierige Impresario Lindorf, der es auf Stella offenbar sowohl als Frau wie auch als Künstlerin abgesehen hat..
Und auch die Muse hat eigene Ambitionen: Gleich zu Beginn outet sie sich, mit Mikrofon zum durchaus geneigten Lübecker Publikum sprechend, als Kulturpolitikerin, die mit Hoffmann gern auch die ästhetische Provokation als politisch erwünscht vereinnahmen würde. Und damit sind nun wirklich eine ganze Menge verschiedener Diskursebenen im Spiel, die im Verlauf des Abends kunterbunt durcheinander purzeln: Avantgarde (Hoffmann) kontra Kommerzkunst (Lindorf), ästhetische Provokation (Hoffmann) kontra politische Repräsentation (Muse), Liebesrausch (die drei Geliebten) kontra hohe Kunst (Muse) …
Ach ja, und eine Handlung gibt es auch noch. Ganz hinten auf der von Martin Kukulies karg, aber effektvoll gestalteten Bühne sieht man einen roten Theatervorhang, der sich immer mal wieder öffnet, damit die Sängerin Stella im gleißenden Portallicht den Applaus des „Opernpublikums“ ihrer „Don Giovanni“-Vorstellung entgegennehmen kann. Zwischen diesen Auftritten und damit quasi auf der Hinterbühne stellt sie dann dem armen Hoffmann seine drei Flammen Olympia, Antonia und Giulietta so vor Augen, dass dem Hören und Sehen vergeht. Ein Fitnessstudio für Spalanzanis schönheitschirurgisches Kunstwesen Olympia, ein einsames Klavier für Antonias Gesangsstunden und schließlich die im venezianischen Nebel kreisenden Kulissenversatzstücke für den Giulietta-Akt sind die Stationen auf diesem Weg der Desillusion. Sie geben der Regie die Gelegenheit, die Szenen, vor allem die in Venedig, als Parodie konventioneller Opernregie zu karikieren. Denn mit „Oper“ kann nun gerade der Avantgardist Hoffmann überhaupt nichts anfangen. Die Bühnenbildnerin Mechthild Feuerstein hat ihm Stilklamotten im Billigappeal verpasst – Streifentrainingshose, Netzhemd, langer Ledermantel –, auch unter seinen Saufkumpanen sind etliche Figuren mit Ähnlichkeitsverdacht zur Avantgarde-Schickeria, unverkennbar hat Jonathan Meese sein Double in diese Entourage geschickt. Und wenn Hoffmann nach der Barcarole selbst ästhetisch mal so richtig die Sau rauslässt, dann setzt er sich die Sonnenbrille auf und rockt im Bühnenkeller mit Begleitung von Drumset, Bass und E-Gitarre, dass oben die Kulissen nur so wackeln.
Das wiederum ist der Muse so gar nicht recht, denn die will Hoffmann der Repräsentationskunst zuführen und damit den Provokateur ästhetisch kastrieren. Das aber tut Hoffmann am Ende gleich selbst: Er greift zum Messer und schneidet sich blutsudelnd das Gemächt ab – was halt der Avantgardist so macht, wenn sexmäßig nix mehr geht. Doch die Muse ist entzückt, denn der schwanzlose Hoffmann kommt ihr (im oben erwähnten Finale) gerade recht als Objekt der finalen Verklärung zum ästhetischen Helden des politischen Vaterlandes …
Man muss schon ein bisschen auf Schnipseljagd gehen, um der Regie bei alledem auf den Fersen zu bleiben. Erstaunlich an diesem Abend ist aber zweierlei: Zum einen kommt auch, wer nicht so genau hinschaut, auf seine Kosten, allerdings eher im Sinne des Impresario Lindorf. Denn auch als kunterbunte Unterhaltungsshow funktioniert Lutz’ „Hoffmann“ bestens. Und zum anderen schafft es auch der Dirigent Ryusuke Numajiri immer wieder, eine ziemlich heile musikalische Welt herzustellen, wenn ihm die Regie dabei nicht gerade in die Quere kommt. Numajiri dirigiert einen sehr subtil ausformulierten, geschmackvoll und lebendig phrasierten „Hoffmann“. Und er führt das hochkonzentrierte Orchester, den sehr guten Chor und auch das riesige Sängerensemble großartig, indem er jedem gibt, was er braucht, um seine Stärken auszuspielen.
Beeindruckend ist, dass Fabienne Conrad es schafft, alle vier Frauenfiguren vokal hochpräsent zu vergegenwärtigen, auch wenn ihr keine der vier ideal liegt. In den Koloraturen der Olympia schlägt sie sich technisch geschickt und höhensicher, hier und mehr noch als Antonia fehlt ihr aber die klare Kontur der Legatolinie, im Lyrischen wirkt der Fokus der Tongebung ein bisschen zittrig. Trotzdem: eine große Leistung! Das gilt auch für Jean Noel Briand als Hoffmann, der, mit belegtem Timbre zwar, gestalterisch aber sehr einfühlsam mit seiner Partie umgeht und als Bühnenfigur einen echt coolen Künstlertypen auf die Bretter legt. Auch Wioletta Hebrowska ist als Muse hochpräsent und darstellerisch profiliert, trotz ihres herben Timbres bringt sie die warme Expressivität dieser Figur wunderbar herüber. Bemerkenswert idiomatisch, mit dunklem, schmiegsamem Bariton gestaltet Gerard Quinn das böse Quartett, in das Dapertutto sich aufspaltet.
So arbeiten hier die Musiker an der Heilung der heilen Opernwelt und der Regisseur an der Verkomplizierung des Komplizierten, wobei letzterer aber doch wieder so unbekümmert lustig mir seinen Diskursebenen jongliert, dass sich das Lübecker Publikum bestens unterhalten fühlte. Wir vermuten, dass nicht nur die politische Muse auf der Bühne, sondern auch die realen Lübecker Kulturpolitiker im Parkett mit Florian Lutz zufrieden waren. Woran man sieht: Auch die wirkliche Opernwelt ist, genau wie Lutz‘ Inszenierung, voller Widersprüche.