Foto: Emily Newton als Elisabeth von Valois in Jens-Daniel Herzogs „Don Carlos“-Inszenierung © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 30. September 2019
Die traurige Geschichte vom unglücklichen Thronfolger „Don Carlos“ mit seinen Lebens-, Liebes- und Machtkrisen am spanischen Hof hat es noch keinem ihrer Interpreten leicht gemacht – nicht dem stürmischen Urtext-Erfinder Friedrich Schiller, nicht dem zwanzig Jahre seines reichen Künstlerlebens um die richtige Musiktheater-Version kämpfenden und unzufrieden eine Neufassung auf die andere stapelnden Opernkomponisten Giuseppe Verdi und schon gar nicht den Regisseuren, sei es im Schauspiel oder in der Oper. Im lange anhaltenden inoffiziellen Wettbewerb der Sparten, wo das rein verbale Gewitter des Sturm und Drang inzwischen erschlafft ist, hat das Musiktheater derzeit die Nase weit vorn. Sogar Ober-Wagnerianer Christian Thielemann will es jetzt in Dresden erstmals mit diesem vom Dramatischen Gedicht zur heimlichen Grand opéra mutierten Werk probieren. In Nürnberg ist das Vorhaben nach der Papierform eher auf der sicheren Seite. Der inszenierende Intendant Jens-Daniel Herzog hat in beiden Sparten Erfahrung mit dem Stoff, die eben zum Publikums- und Kritikerliebling aufgestiegene Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz studierte im ersten Jahrzehnt ihrer steilen Karriere schon drei Verdi-Produktionen ein. Kann da was passieren? O ja!
Die Neuinszenierung von Jens-Daniel Herzog ist vom Anspruch plakativer Vergegenwärtigung geprägt, ja, fast schon geschüttelt. Der Regisseur will etwas, er holt das Affären-Verwirrspiel in eine überdeutlich angelegte und dabei doch schnell dem harten Zugriff entschlüpfende Gegenwart. Alle sind in Anzüge und Kleider von „irgendwie heute“ gesteckt, sogar der Großinquisitor (zu welcher Kirche, in welche Zeit soll er gehören?) bevorzugt elegant dunkles Tuch zum faltbaren weißen Blindenstock. Flandern schickt seine Gesandten allerdings im Übergangsmantel zum Bittgang bei Hofe, da scheint die Revolution direkt aus der Buchhaltung zu kommen. Nur das Volk treibt es bunt, es drängt im Gaffer-Design am Straßenrand, und da wird ja einiges geboten.
Der alte Monarch hat dem liebestrunkenen Thronfolger in einem Akt von Mundraub die eben frisch geküsste Verlobte weggeheiratet und sogleich eine Ersatz-Infantin gezeugt. Sie ist, das erfindet die Regie wie einen warnenden Hinweis auf überschätzte Generationswechsel, fortan das Kind an der Seite der Macht, immer ein Patschhändchen bereit zur Kontaktpflege auf höchster Ebene. Papa König trägt es huckepack an den Bildschirm zum täglichen KiKA-Konsum im Schloss, Mama Königin trainiert mit ihr soziales Empfinden und lässt sie erquickliche Trinkwasser-Portionen an darniederliegende Opfer der Macht austeilen. Der geprellte Infant schmollt jenseits solcher privater Versuchsanordnungen, bis sein politisierender Männerfreund Rodrigue zwischen den Politik- und Familienfronten auftaucht und alles verschlimmert. Aus dem Königssohn wird ein Aufständischer, er landet im Kerker und die Institution Kirche mischt auf der Blutspur mit. Am Ende nach Mord und Totschlag in Serie mit einem Spalier von Intrigen zwischen Amts- und Schlafzimmer sind die moralischen Positionen wie auf einer Kegelbahn abgeräumt.
Jens-Daniel Herzog hat, was ohnehin zu seinen besonderen Talenten gehört, den geordneten Aufbau von Opern-Tableaus mit irritierenden Querschläger-Effekten unterminiert, also erschüttert. Auf der Bühne von Mathis Neidhardt (bewegliche, immer wieder neu verschränkte Riesenwände, die auf der einen Seite einschüchternd historisierendes Nußbaum-Muster und auf der anderen kühl neutralen Schleiflack zeigen) werden die Szenen bis an die Schmerzgrenze zugespitzt. Der Infant Carlos ist ein Couchpotato (der gradlinig singende Tadeusz Szlenkier bleibt noch in wildesten Wallungen dieser Grundhaltung verbunden), kauert schon vor Beginn der Vorstellung und beim ersten Blind-Date mit der künftigen Königin (Emily Newton, anfangs neckisch, dann elegisch erblühend) klammernd im breiten Polstersessel. Der angeblich alternde „Sie hat mich nie geliebt“-Vater Philipp (Nicolai Karnolsky verbittet sich in Stimme und Haltung jeglichen Verdacht von Pensionsbereitschaft) fordert frei nach Putin einen Untertan zur öffentlichen Zweikampf-Show mit Sieg-Garantie. Er, der die Braut klaute, prüft auf offenem Schauplatz die Jungfernschaft seiner Beute (Taschentuch blutig, alles in Ordnung!) und lässt eine Hofdame abknallen, die der Textdichter nur entlassen wollte. Den zeitweiligen Vertrauten Rodrigue (Sangmin Lee mit der besten vokalen Präsenz) meuchelt er im Zweifelsfall gern persönlich, obwohl der professionelle Mörder schon zur Schandtat bereit steht.
Dass die Regie weder mit der Intrigantin Eboli (kraftvoll bei Stimme: Martina Dike) noch mit der dunklen Macht der Inquisition (eher Randerscheinung als Strippenzieher: Taras Konoshchenko) viel anfangen kann, erstaunt dann aber doch. In die kleine Infantin wird umso mehr Gestaltungswille investiert, sie ist allgegenwärtig. Während die wohltätige Mutter einen Stapel Reisepässe an Flüchtlingsfrauen verteilt und dafür unter den teilnahmslosen Blicken des herrschenden Ehemanns von einer Faschistentruppe niedergeknüppelt wird, macht das eben noch so strikt goldige kleine Mädchen blitzschnell ihren Wandel durch, legt das andere Spielzeug beiseite und greift nach der Krone.
Dass die Fassung mit der länglichen Vorgeschichte der geplatzten Verlobung gewählt wurde, ist zum Verständnis der folgenden Ereignisse absolut logisch. Allerdings um den Preis, dass man den sprödesten Teil der dreieinhalbstündigen Oper, den auch musikalisch am wenigsten faszinierenden, am Anfang durchzustehen hat. Joana Mallwitz am Pult der Staatsphilharmonie kämpft mit anfeuernden Signalen um Sinnlichkeit im Sound, der hörbar tastende Stimmen da phasenweise fast nackt erscheinen lässt, und nimmt zugunsten der aufbauenden Vitalität dafür auch knallige Effekte in Kauf. Das ändert sich, sobald die Dirigentin in die Seitenlinien der Komposition ausschwärmen und dort Entdeckungen von Blüten lyrischer Poesie feiern kann. Es flirrt und glitzert dann, Melancholie umspielt oder umspült die großen Posen. Am allerschönsten gelingt das im Schlussteil, wenn die Königin zum tragischen Abschied ansetzt. Wie die zuvor eher solide gebliebene Sopranistin Emily Newton in Partnerschaft mit der zaubernden Dirigentin und dem wie verklärt wirkenden Orchester die Szene zum Mirakel macht, das ist ein ausgiebig genießbarer Moment von Opernwunder.
Es gibt davon zu wenige in dieser ambitionierten Aufführung, die in der Inszenierung weit entfernt bleibt von dem, was Hans Neuenfels („Troubadour“) und Hansjörg Utzerath („Othello“) am Nürnberger Opernhaus mit Verdi einst erreichten. Zur Pause nach zwei Stunden waren die Reaktionen der Zuschauer verhalten, am Ende zielte der anhaltende Beifall bevorzugt auf Dirigentin Joana Mallwitz.