Foto: Gestrandet im Waschmaschinenkeller des Spießerhauses: Falstaff (Juan Oroczo). © Paul Leclaire
Text:Georg Rudiger, am 29. September 2019
Kaum eine Oper fängt so turbulent an wie Giuseppe Verdis „Falstaff“. Das Allegro vivace startet von Null auf Hundert mit purzelnden Sechzehnteln und hüpfenden Nachschlägen im Fortissimo. Bei der Saisoneröffnung am Freiburger Theater beginnt die lyrische Komödie aber mit beklemmendem Schweigen. In der Klinkerhölle, die Duri Bischoff für Ford gebaut hat, bügelt Mrs. Quickly die Hemden, während Doktor Cajus (Roberto Gionfriddo) nervös seine Runden dreht. Oben im holzverkleideten Schlafzimmer vergnügt sich der Hausherr mit Meg, der besten Freundin seiner Ehefrau Alice, die die beiden in flagranti ertappt. Kein schönes Leben in diesem 60er-Jahre-Haus zwischen Sitzgruppe und Durchreiche. Die Rollen sind verteilt, die Gefühle erstarrt. Kein Fenster, das ein wenig Licht oder frische Luft hereinlassen könnte. Regisseurin Anna-Sophie Mahler zeigt eine erstarrte bürgerliche Ehe. Aber bevor sich Alices Depression so richtig breit machen kann, kracht Falstaff mit seinen zwei Kumpels zu den scharf umrissenen Klängen aus dem Orchestergraben durch den Kleiderschrank und bringt Leben in die Bude (Kostüme: Nic Tillein).
Wie ihr Chef kombinieren auch Bardolfo (Junbum Lee) und Pistola (Rossen Krastev) eine Elvis-Tolle mit Westernstiefeln. Falstaff arbeitet zusätzlich mit offenem Hemd und Leopardenweste an der Steigerung seines Sex-Appeals. Juan Oroczo singt und spielt diesen dicken Ritter aber nicht als Witzfigur. Sein Falstaff ist ein in die Jahre gekommener Don Giovanni mit aufbrausendem Temperament und unerschütterlichem Selbstbewusstsein. Sein markiger Bariton hat enorme Durchschlagskraft. Dass ihm im Parlando ein wenig die Beweglichkeit fehlt, machte die Rollenzeichnung nicht weniger überzeugend. Falstaffs gleichlautende Liebesbriefe an Alice (mit lyrischer Intensität: Irina Jae-Eun Park) und Meg Page (mit schlankem Mezzo: Inga Schäfer) sind ohne jeden Skrupel verfasst. Samantha Gaul als glockenhell singende Nannetta und Anja Jung als tiefenentspannte Strippenzieherin Mrs. Quickly machen die Frauenpower komplett.
Generalmusikdirektor Fabrice Bollon legt mit den Freiburger Philharmonikern ein enormes Tempo vor. Die Blechbläser klingen so trocken und federnd wie eine italienische Banda, die Streicher haben viel Gripp und spötteln auch mal in ihren kleinen, präzise modellierten Motiven über das, was auf der Bühne passiert. Blitzschnell schaltet das Orchester um zwischen Attacke und Beruhigung, zwischen wuseligem Kleinklein und lyrischen Bögen. Bei den rasenden Ensembleszenen treten bei der Premiere zwischen Bühne und Orchestergraben zwar durchaus Koordinationsprobleme auf, aber im Laufe des Abends überlappen sich Gesangs- und Instrumentalstimmen immer besser. Anna-Sophie Mahler legt bei ihrem Debüt am Freiburger Theater nicht nur eine szenisch profilierte, sondern auch eine enorm musikalische Inszenierung vor. Die Abgründe der Figuren spiegeln sich auch in den langen Generalpausen, die Bollon dem verzweifelten Ford (mit kantablem Bariton: Martin Berger) nach der ersten Begegnung mit Falstaff lässt. Und wenn in den Begegnungen zwischen Nannetta und Fenton (berührend: Joshua Kohl) das Philharmonische Orchester die Zeit anhält und die Streicher warmen Glanz verbreiten, dann verändert sich sofort das von Michael Philipp gesteuerte Licht. Trotz allem gibt es in diesem Spießerhaus auch genügend zu lachen. Mahlers Personenführung ist genau, das Timing perfekt. Selbst das Einheits-Bühnenbild bietet immer wieder Überraschungen, wenn irgendwo mal wieder eine Tür aufgeht oder das Ehebett mitsamt Falstaff in die Schrankwand klappt.
Der dritte Akt spielt im Keller. Während Falstaff sich aus der Kanalisation herauswuchtet, dreht sich die Waschmaschine. Seine Elvis-Tolle ist genauso dahin wie sein Standing. Die nasse, popelgrüne Unterwäsche nimmt ihm den Rest seiner Würde, während Mrs. Quickly neben ihm einen Wäscheberg aufhäuft. Ein wenig Nebel aus der Wäschetrommel genügt, um die Geisterstunde im Park von Windsor zu beschwören. Den Herren des Opernchors (Einstudierung: Norbert Kleinschmidt) reicht ihre bunte Unterwäsche als Verkleidung für diesen Mummenschanz aus. Hier verliert die Produktion zwar szenisch ein wenig an Fantasie, dafür brilliert sie musikalisch mit der beweglichen, im Orchester hochgepeitschten Schlussfuge „Tutto nel mondo è burla“. Als Witz kann Alice ihre Situation aber nicht mehr abtun. Sie schnappt sich Meg und türmt mit ihr durch den Zuschauerraum. Da schaut Ford ganz bedröppelt aus der Wäsche.