Foto: Marie-Christine Haase (Junge 1), Eva Gilhover (Die Großmutter) und Susann Vent (Junge 2) in Sidney Corbetts neuer Oper "Das große Heft". © Marek Kruszewski
Text:Detlef Brandenburg, am 17. März 2013
„Das große Heft“ ist ein seltsamer Roman. 1986 hatte ihn 1935 die in Csikvánd in Ungarn geborene Ágota Kristóf unter dem Titel „Le grand cahier“ herausgebracht. Die Autorin hat in ihrem Leben Krieg und Gewalt erfahren, 1956 war sie nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes in die Schweiz geflohen. Und in der Tat: „Das große Heft“ ist ein Buch vom Krieg. Aber der Krieg kommt nur indirekt vor. Es erzählt von einem Zwillingspaar, das sich in einer von kriegerischer Gewalt geprägten Gesellschaft ohne Mutter und Vater bei der hartherzigen Großmutter durchschlagen muss. Die beiden Jungen trainieren sich zur Härte gegen Schläge, Beleidigungen und Weichherzigkeit, sie stehlen, erpressen, begehen Grausamkeiten, und am Ende schickt einer von ihnen den zurückgekehrten Vater in den Tod, um selbst zu überleben.
Man möchte also annehmen, dass es hier um Anklage geht: darum zu zeigen, wie der Krieg zwei Kinder auch mittelbar, also ohne dass sie wirklich Opfer von Kampfhandlungen werden, moralisch zerstören, seelisch versehren kann. Aber der sachliche Ton des Romans steht der Unterstellung einer Anklage entgegen. Dieser Ton hat seine unmittelbare Verankerung in der Geschichte selbst. Die Zwillinge nämlich schreiben ihre Erlebnisse in ein großes Heft – aber nur, wenn der jeweilige Aufsatz gut ist. Dafür gibt es eine einfache Regel: „Der Aufsatz muss wahr sein.“ Diese Wahrheit ist klar wie Glas und ebenso hart. Sehr klar wird zum Beispiel, dass die Bedrohungssituation die Zwillinge nicht etwa moralisch indifferent werden lässt, sondern im Gegenteil: moralisch different im wahrsten Wortsinne. Sie bilden ihre eigenen, der Situation angemessenen moralischen Normen aus, brechen Tabus, kennen aber auch Solidarität. Sexuelle Willfährigkeit als Gegenleistung für Schutz ist für sie ein guter Deal; eine Erpressung zugunsten einer schwachen Freundin ein legitimes Mittel. Der Text enthält sich da jeder Wertung. Er ist schlicht wahr. Und darum ist er gut.
Offenbar war es diese lakonische Wahrhaftigkeit, die den 1960 in Chicago geborenen, heute in Berlin lebenden und in Mannheim lehrenden Komponisten Sidney Corbett zu seiner Oper „Das große Heft“ inspiriert hat. Seine Musik kennt Stimmungen und Seelenregungen; aber ihre kristallklar strukturierten Klangflächen konstatieren alles mit kühler Wahrhaftigkeit. Der Orchestersatz ist hochtransparent, dabei rhythmisch vielschichtig und facettenreich; ein Akkorden, zarte Streicherflächen, aparte Bläsermischungen fangen das ländliche Abseits ein, in dem die Handlung spielt; eine farbenreiche Schlagwerkbatterie (Eisenketten und Ölfässer inklusive) setzt konzise Akzente. Damit entspricht die Musik der Atmosphäre des Romans, findet ihm gegenüber aber eine eigene Form. Sie ist nicht narrativ, sondern situativ. Es gibt zwar Leitmotive, die die Handlung akzentuieren, und Farben, die den Personen zugeordnet sind. Aber das Zuständliche steht im Vordergrund.
Und deshalb trägt diese Musik die Handlung nicht ohne weiteres. Genau das war eines der Probleme, dem sich die Uraufführung am Theater Osnabrück zu stellen hatte. Schon das Libretto, das Corbett gemeinsam mit dem Osnabrücker Intendanten Ralf Waldschmidt eng am Roman entlang eingerichtet hat (die beiden sind seit Corbetts erfolgreichen Bremer Uraufführungen künstlerische Weggefährten), greift zu einer bei „Literaturopern“ häufigen Verlegenheitslösung: Eine Menge Text wird über eine aus dem Off sprechende Erzählerin vermittelt, die musikalisch nicht integriert ist. Und man fragt sich bald, ob man das wirklich alles so genau wissen muss. Die Musik ist so stark, dass es vermutlich ausreichte, die Situationen viel lapidarer vor Augen zu stellen und ihr deren Erschließung anzuvertrauen. Gerade auch die beiden Sopranpartien der Zwillinge, die subtil mit dem Orchestersatz verzahnt sind, entfalten da ein ganz eigenes, fesselndes Melos.
Auch die Inszenierung von Alexander May kann dieses Problem nicht lösen. Indem sie der Handlung im effektvoll düsteren Bühnenbild von Etienne Pluss werkdienlich und (abgesehen von Bert Zanders dekorativ überflüssigen Videos) in geschmackvoll kargem Realismus folgt, beschreitet sie einen Mittelweg, der nicht wirklich golden ist. Man könnte sich sowohl eine krassere bildlich-szenische Zuspitzung wie auch eine kältere Abstraktion als bessere Lösung vorstellen. Musikalisch dagegen war die vom Publikum begeistert aufgenommene Premiere ein eindrucksvoller Leistungsbeweis der Osnabrücker Opernsparte. Unter seinem neuen, jungen GMD Andreas Hotz (geboren 1981) agierte das Orchester mit einer technischen Präzision und interpretatorischen Nachdrücklichkeit, wie sie auch an größeren Häusern keineswegs selbstverständlich ist. Mit den Sopranistinnen Marie-Christine Haase und Susann Vent in den Partien der Zwillinge hat die Produktion zwei Protagonistinnen, die in empathischer Zweieinigkeit interagierten. Insbesondere Marie-Christine Haase erfüllte ihre bis in die dreigestrichene Oktave reichende Partie mit einfühlsamer, wunderbar klarer Leuchtkraft. Und Eva Gilhofer – stellvertretend genannt für ein bemerkenswert rollendeckendes Ensemble – war eine Großmutter von starker Ausstrahlung, die Corbetts parlando-brutto-Anweisung in herbem Sprechgesang sinnerfüllt umsetzte. Erwähnenswert auch der Kinderchor des Hauses, der seine schwierige Aufgabe nicht nur tadellos, sondern sehr ausdrucksstark bewältigte.