Foto: Ariel (Katharina Elisabeth Kram) als gute Seite von Prosperos (Olaf Schürmann) stürmischen Alpträumen © Peter Litvai
Text:Michaela Schabel, am 21. April 2018
Uraufführung von Wolfgang Maria Bauers „Der bayerische Sturm“ am Theater am Hagen
Prospero liegt in der Belle Etage im Halbrund einer Klinik. Er kramt in Erinnerungsfotos, die auf die Fensterfront projizierte werden, zittert, muss erst mit Tabletten beruhigt werden, darf im Fernsehen touristische Robinson-Insel-Idyll sehen, damit er gewaschen werden kann. Dieser Prospero ist der Mensch schlechthin kurz vor seinem Tod. Regisseur Wolfgang Maria Bauer interpretiert Shakespeares „Sturm“ vom Ende her. Was passiert da, wenn einer geistig verwirrt scheint, dement wird und stirbt? Bauers Prospero erlebt den letzten Sturm seines Lebens. In fließenden Übergängen leuchtet die Vergangenheit als romantische Inselidylle oder surrealer Alptraum auf. Shakespeares letztes Werk bekommt eine neue gegenwärtige und authentische Dimension.
Durch Lichtsymbolik bleibt die Shakespeare-Struktur dennoch sehr klar. Weiß signalisiert die Klinik. Leuchten die Fenster grün, macht sich die Inselhandlung breit, die sich bei intensiven Rot immer wieder in die Magie surrealer Alpträume verwandelt. Die bayerische Ebene bleibt im komödiantisch auf die Dienerrolle Trinculos begrenzt. Von ihm, nicht von Prospero lernt Caliban das Sprechen, woraus sich das Bayerische auf dem Niveaus des Zungenbrechers Oachkatzlschwoaf amüsant harmlos entwickelt, atmosphärisch intensiviert durch den leitmotivischen Haindlingsong „Die bayerischer Seele“ und den melancholischen Sound Johnny Cashs, von Peter Peer als Trinculo ins Bairische übertragen und von David Moorbach als Johnny Cash live gespielt und hinterfragt. „Was ist denn hier eigentlich bairisch?“
Wolfgang Maria Bauers „Bayerischer Sturm“ ist nicht auf den Dialekt begrenzt. Es geht um die Authentizität und die bringt Wolfgang Maria Bauer durch den Sound- und Textmix, durch die charismatische Expression einiger Schauspieler und nicht zuletzt durch die gelungene Ausstattung, insbesondere die damit verbundene Originalität der Kostüme (Aylin Kaip) bestens zur Wirkung. Olaf Schürmann erdet Prospero mit sonorer Stimme als altersschwachen Jedermann, der im Rückblick auf seine Leben so manchen Alptraum noch zu schultern hat. Die Fenster kippen und die Nacht bringt den „Sturm“ der Alpträume, wo Prospero noch einmal der große Zauberer sein kann, der a la Goethes „Faust“ im Studierzimmer nach der Weisheit sucht. Nicht Mephisto erscheint, sondern die Bücher umwandeln Prospero als lebensgroße Geister und erdrücken ihn fast, eine beeindruckend originelle Szene.
In Bauers Version werden Ariel und Caliban zu den geistigen Energien Prosperos. Caliban, von Joachim Vollrath als exotisch tölpisches Unwesen in Szene gesetzt, ist die negative Seite, Ariel die positive. Faszinierend agiert Katharina Elisabeth Kram als androgyner Ariel. Mit langen Beinen und Armen bewegt sie sich in Zeitlupendtempo raumgreifend frei mit flatternden Bändern, Rad schlagend, im Mantel verschwindend und plötzlich wieder erscheinend ganz und gar ein Fabelwesen und doch immer unterwürfig. Mit charismatisch schmeichelnder Stimme erfüllt sie alle Wünsche Prosperos. Sie malträtiert mit ihren Gehilfinnen (Laura Puschek, Ella Schulz), die Prosperos Schwester Antonia, im Gegensatz zu Shakespeares Antonio, und erlöst sie auf dessen Geheiß. Ferdinand (Julian Niedermeier) und Miranda (Mona Fischer) verlieben sich durch Ariels magische Kräfte auf den ersten Blick. Wenn sie sich als Krankenhauspersonal plötzlich förmlich gegenüberstehen bedient sich Wolfgang Maria Bauer geschickt der romantischen Ironie a la Heinrich Heine. Antonias resolutes Macht-Geld-Credo (Paula-Maria Kirschner) intensiviert er durch Brechts „Haifisch“-Song und das Volkstheater entwickelt in den Dialogen von Trinculo und Caliban mit Reinhard Peer und Joachim Vollrath urig bairischen Episodenwitz, ohne sich zu stark in den Vordergrund zu spielen.
Anfangs monologisierendes Klagen des Krankenpflegepersonals über Krankenpfleger als Kostenfaktor verortet in der Gegenwart, nicht minder der Schluss als endgültiges Loslassenkönnen, nachdem alle geregelt ist und die Dämonen des Unterbewussten kanalisiert sind mit der Erkenntnis um die eigene Verhässlichung und geistige Verwirrung und vor Platons Hintergrund, dass Leben und Sterben, Vergehen und Werden sich gegenseitig bedingende Prozesse sind.
So kommt Shakespeare beim Publikum an und Shakespeare wird wieder das, was er immer war, nämlich Volkstheater. Gleichzeitig weitet Wolfgang Maria Bauer zusammen mit Dramaturg Peter Oberdorf Volkstheater auf verschiedene literarische Ebenen, ohne dass die Authentizität der Inszenierung und des Originals verloren geht. Ein Volltreffer!