Foto: Szene mit Georg Mitterstieler und Gertrud Kohl © Thomas M. Jauk
Text:Bettina Weber, am 26. Mai 2014
Das Unglück naht, oh ja. Übergroß wölbt sich der Schatten Wassa Shelesnowas mit eben dieser Botschaft in feinster Horrorfilm-Attitüde über die Tochter Anna, als wär’s ein Hitchcock. Ort des Grusels: Das Haus einer Familie, deren Oberhaupt Wassa (Mutter) es mit einem sterbenden Mann, berechnenden Kindern und deren Partnern sowie der Führung eines Familienunternehmens zu tun hat. Michael Talke zeigt die untergehende Familie von Wassa Shelesnowa als historisch verkleidetes (Bühne und Kostüm: Barbara Steiner) Revival aus dem russischen Zarenreich, in dem die Textvorlage (Übersetzung: Rainer Kirsch) entstand: Maxim Gorki veröffentlichte seine erste Version des Dramas 1910 vor dem Hintergrund der gescheiterten ersten Russischen Revolution von 1905. Die Familie als Miniaturausgabe einer vom Kapitalismus zerfressenen Gesellschaft.
Im Zentrum von Barbara Steiners Bühne steht ein riesiges Bild des Gorki-Zeitgenossen Ilja Repin („Unerwartet“), das die Rückkehr eines Verstoßenen zu seiner Familie zeigt: Ein Mann betritt ein Zimmer, die anderen Gesichter zeigen weit aufgerissene Augen als Ausdruck von Sorge, Misstrauen, Überraschung und Freude. Das große Bild hat eine Tür und ein verschließbares Fenster, fungiert als Wand in einem halb angedeuteten, halb vorstellbaren Familienschloss verfallener Dekandenz. Gorki mag sich Wassa als eine patriarchalische Frau erdacht haben, die durch die Härte jahrelanger Arbeit und Verantwortung verbittert ist, aber trotzdem nach einem Familienzusammenhalt sucht, kurz: eine Frau mit den Überresten von Menschlichkeit. Michael Talke verkantet sie zu einer von Grund auf bösen Despotin. Auf einem Ohrensessel thronend, spinnt sie Intrigen, droht den eigenen Kindern, dem Personal und zerstört die Familie von innen heraus.
Gertrud Kohl spielt sie mit beeindruckend eisiger Macht. Und weil der Apfel bekanntermaßen nicht weit vom Stamm fällt, handelt der missratene Nachwuchs genauso hinterhältig. Hier gönnt keiner dem anderen die Butter auf dem Brot, auch nicht der Geschäftsführer Michailo oder der Onkel und Anteilseigner Projor. Nur Anna, die nach Jahren zurückgekehrte Tochter, scheint noch einen Funken Anstand zu besitzen. Sie wird denn auch gleich von allen misstrauisch als potenzielle Gegnerin im Streit um das große Erbe beäugt – so überführt Talke also das Gemälde in lebende Figuren auf der Bühne. Zudem dehnt er immer wieder einzelne Sequenzen zu Stummfilmszenen in Slow Motion aus, wabern Nebel und Horrorfilmsounds über die Bühne. All das macht durch die gut getimte Vernetzung der Effekte und das insgesamt starke Spiel der Besetzung ziemlich Spaß.
In dieser Inszenierung gibt es – im Gegensatz zu anderen neuen Interpretationen – am Ende tatsächlich ein lukratives Erbe, vom Konkurs der Firma ist nicht die Rede. Da offenbar auch in dieser Wassa noch etwas Mutter steckt, teilt sie zuletzt mit ausgewählten Familienmitgliedern das Geld. „Ich bin doch ein Mensch“, sagt sie. Schade nur, dass man ihr diese Solidarität nur schwer abnehmen kann, zu wenig blitzt vorher auch nur das geringste Anzeichen für diesen Wandel auf. Talke führt eine bösartige Familie über knapp zwei Stunden sehr gelungen vor, die Suche nach etwas Gutem hinter der gemeinen Fassade am Schluss kommt allerdings allzu überraschend – ein Makel, den das Saarbrücker Publikum nicht zu stören schien. Es applaudierte begeistert.