Foto: "Der Leichenverbrenner" in Wien, hier: Michael Maertens als Kopfkringl, Manuela Linshalm, dahinter: Dorothee Hartinger. © Matthias Horn
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 9. Oktober 2020
„Die Familie ist das Wichtigste“, schnauft der Spießbürger zwischen zwei Paar gespreizten Damenbeinen, die sich varietéartig wie ein Fächer öffnen: „Dafür gibt es das heilige Sakrament der Ehe!“, stöhnt er atemlos beim Sex mit den zwei Huren, ehe er sich entspannt am hübsch gedeckten Familientisch wiederfindet. „Kein schöner Land in dieser Zeit“, erschallt es dort vierstimmig zwischen altdeutschen Möbeln, und Karel Kopfkringl, Abstinenzler, Tierliebhaber und vom tibetanischen Buddhismus ebenso fasziniert wie von Krematorien, blickt sanft ergriffen auf seine Lieben – eine „reine germanische Seele“ im schicken Zweireiher, ein „Herrenmensch“, der sich alsbald mörderisch über die Seinen erheben wird.
Es ist der reale Horror alltäglich vollzogener Vernichtung während der nationalsozialistischen Okkupation in Prag, die der tschechische Schriftsteller Ladislav Fuks (1923-1994) in seinem Roman „Der Leichenverbrenner“ von 1967 anhand der schleichenden Verwandlung des Karel Kopfkringl in einen Nazi beschreibt. In unseren Zeiten des anwachsenden Rechtsextremismus, in denen sich Unmenschlichkeit und brutale Irrationalität wie eine Seuche verbreiten, erscheint Fuks‘ Roman über die Mechanismen des Erstarkens des Faschismus als Lehrstück der Stunde. Dessen Dramatisierung durch den österreichischen Dramatiker und Romanautor Franzobel brachte nun der 32-jährige Grazer Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan im Wiener Akademietheater zur Uraufführung – sieben Monate nach dem ursprünglich geplanten Premierentermin, der wegen des durch die Pandemie bedingten Lockdowns verschoben werden musste.
Ladislav Fuks gelingt es in seinem scheinbar realistischen, von zunehmendem Horror erfüllten Roman, die wahnhaften Züge des Nationalsozialismus und seines Protagonisten mit den Mitteln der Groteske erkennbar zu machen. Er schuf mit seiner kunstvoll überhöhten Figur des Karel Curda, genannt Kopfkringl, exemplarisch einen jener autoritären Charaktere, wie sie Erich Fromm und Theodor W. Adorno beschrieben hatten. Für die Verwirklichung des Faschismus gehen sie über Leichen – damals wie heute. Kopfkringl, ehemaliger Frontsoldat, überfürsorglicher Familienvater und Angestellter des städtischen Krematoriums, ist der Inbegriff des halbgebildeten Spießers mit geringem Selbstwertgefühl, der in vorauseilendem Gehorsam nicht nur seine Mitmenschen denunziert, sondern für die Paradiesversprechen der Nazis seine Frau und seine Kinder ermordet und zum Technokraten der Massentötung aufsteigt, ehe er an der ideologischen Verblendung irre wird. Er ist ein Vertreter der von Hannah Arendt beschriebenen „Banalität des Bösen“, ein Mörder ohne Gewissen, der sich seiner „halbjüdischen“ Frau entledigt wie eines unbrauchbar gewordenen Spielzeugs.
Im betongrauen Kubus des Krematoriums (Bühne: Jakob Brossmann) steht Michael Maertens als Kopfkringl zwischen roten Särgen, die Schultern angezogen, die Arme soldatisch steif an den Körper gelegt, und knüpft sich die Krawatte auf. Ruhig spricht er mit seiner Frau, die in seinen Armen mit den Augen rollt wie eine große Puppe (Dorothee Hartinger als sanfte Lakmé), während er ihr den Hals zuschnürt. Seinen Sohn (Sabine Haupt als melancholisch-trauriger Milivoj) und seine Tochter (Alexandra Henkel) erschlägt er hinterrücks mit einer Eisenstange, ehe ihm zu Klängen aus Wagners „Ring“ ein tibetanischer Mönch erscheint: Aus der Rückwand des Krematoriums hängt eine menschengroße Klappmaulpuppe und verkündet dem verzückt ins Publikum blickenden Kopfkringl, er sei der neue Dalai Lama und werde erwartet.
Fuks zeichnete das Krankheitsbild einer Epoche, von dem die Welt ständig neu befallen wird und schuf eine allgemein gültige Parabel der Unmenschlichkeit. Franzobel schwächt dessen Erzählkunst hingegen in seiner trivialisierenden Dramatisierung. Erzeugt Fuks durch die Schilderung der schleichenden Verwandlung und zunehmenden Zerstörungskraft Kopfkringls tiefgehende Beunruhigung, so überzeichnet Franzobel seinen Protagonisten grotesk-derb und zeigt ihn von Beginn an eindeutig pathologisch. Ebenso holzschnittartig geraten die Nebenfiguren, die dadurch auch an Glaubwürdigkeit und Brisanz verlieren. Stattdessen setzt Franzobel auf oberflächlich-brachialen Humor und erweist sich dabei als ebenso konzeptlos wie Regisseur Nikolaus Habjan.
Zwar ermöglicht eine Art kleine Bühne auf der Bühne im grauen Kubus des Krematoriums einen fliegenden Ortswechsel ins familiäre Wohnzimmer, doch Rhythmus, Atmosphäre, ja einen beunruhigenden Sog entwickelt Habjans Inszenierung kaum. Das mag an der diffusen Figuren- und Sprachregie ebenso liegen wie an der Entscheidung, Nebenfiguren wie den Nazi Willi Reinke durch monströs-groteske Klappmaulpuppen darzustellen, die von Habjan und den Schauspielerinnen geführt und gesprochen werden. Dadurch driftet Kopfkringls Umwelt ins Surreale. Indem Habjan die Welt zum Irrenhaus erklärt, verharmlost er den historischen Wahnsinn und macht dadurch den gegenwärtigen Horror aus Rassismus und Menschenverachtung unerkennbar. Diese Art Pappmachégrusel vermag weder Schrecken einzujagen noch die gegenwärtige Krise des Humanismus sichtbar zu machen.