Foto: Schwer schleppt sich die Macht. Matthias Wippich (Claudius) mit Andrew Nolen (Narr) © Matthias Stutte
Text:Andreas Falentin, am 26. November 2017
Am Ende steht der mit rotem Samt bespannte Thron einsam vor dem geschlossenen Vorgang. Um ihn ging es an diesem Abend. Die Gier nach, die Korruption durch Macht dominiert alles – Ethik, Gefühle, Traditionen – und kann alles zerstören. Wer da nicht auch, zumindest ein wenig, Jamaika zerbröseln sieht, hat nicht viel Fantasie.
Vernünftigerweise hat die Regisseurin Helen Malkowsky dennoch auf jede mutwillige Aktualisierung verzichtet. Sie zeigt die auf deutschen Bühnen extrem selten gespielte, 1868 uraufgeführte Oper als besonders im zweiten Teil packend zugespitzte Erzählung, die auf entschlackter Bühne mit kluger Distanz vermittelt wird, so dass ihr immer wieder Parabelcharakter zuwächst, ohne dass dadurch die Spannung auf der Handlungsebene in den Hintergrund träte.
Das Libretto folgt einem Stück von Alexandre Dumas d.Ä. und entfernt sich weit von Shakespeare. Gertrud und Polonius – hier nur eine unscheinbare Nebenfigur – sind Mitwisser und Komplizen des Königsmordes, viele Figuren und Nebenhandlungen sind gestrichen oder auf Statistenformat zusammengeschnurrt. Im Zentrum stehen ausschließlich die Ophelia – Handlung und die Aufklärung und Bestrafung des Königsmordes. Am Ende stirbt Hamlet keineswegs, sondern erledigt alle Schuldigen in einer Art Amoklauf und besteigt sodann selber den Thron.
Hoch interessant ist die Dramaturgie des Stückes. Ähnlich wie in den großen Opern von Hector Berlioz dominieren mählich ineinander fließende, auf den ersten Blick eher statische Tableaus, meist sogar im Wechsel von Chor- und Soloszenen, was sich auch im Orchestersatz wesentlich widerspiegelt. Der ist extrem von Solostimmen dominiert. Selbst in den Finali dominiert nicht romantischer Aufschwung, sondern das Klangfarbenamalgam, bleibt der Klang stets transparent, wirkt manchmal geradezu fragmentiert, hört man immer die Einzelinstrumente. Mihkel Kütson geht diese besondere Herausforderung zu Beginn rustikal an, mit durchaus scharfen Kanten, verweigert das so häufig mit der französischen Oper assoziierte ‚Parfum‘, stellt kostbar absurde Einzelheiten wie den wilden Harfenaufgalopp im zweiten Akt oder das Chorsummen während Ophelias Wahnsinn gnadenlos, aber geschmackvoll aus und hält vor allem auch im Dirigat jene Distanz, die eine Hauptqualität der Inszenierung ausmacht. Im zweiten Teil dann nimmt er die Niederrheinischen Sinfoniker ein wenig zurück, findet einen ruhiger fließenden Ausdrucksmodus, der die Sänger stärker in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Die, sämtlich aus dem Krefeld-Mönchengladbacher Ensemble, danken es nach einigen Wacklern zu Beginn mit stetigem Über-sich-Hinauswachsen. Rafael Bruck reißt nicht nur mit den wunderbaren Lyrismen seines „Sein oder nicht Sein“ – Monologes mit, Matthias Wippich gibt besonders, aber nicht nur, in seiner Gebetsszene einen vielschichtigen Claudius mit sehr klar timbrierten Bass und Sophie Witte bewältigt ihre gewaltige Wahnsinnsarie ohne hörbare Mühe und mit brennend intensivem Spiel.
Helen Malkowsky ist es gelungen, Figuren zu erfinden, die jenseits der Shakespeare’schen Vorgabe zu fesseln vermögen und keinesfalls alt wirken. Auf Hermann Feuchters gelbem, mit wenigen Requisiten und Bildeffekten immer wieder attraktiv verändertem Parkett, zeigt sie schon in der Anfangsszene, worum es geht. Da zieht Claudius den begehrten Thron an sich, alle außer Hamlet und Ophelia hüllen sich in kostbare Kleider und kleben dann in einer grotesk schwerfälligen Polonaise am Thron wie König Midas am Gold. An letzter Stelle kommt der Narr. Den haben die Librettisten Barbier und Carré hinzuerfunden und Malkowsky wertet ihn auf, indem sie ihn mit der Stimme des Geistes von Hamlets Vater zusammenschmilzt. So gewinnt sie eine Spielleiterfigur, die immer wieder, oft in witziger Weise, auf die durch Machtgier verursachte Deformierung aller Figuren, auch Hamlets, verweist. Andrew Nolen füllt diese Figur fantastisch aus, mit profunder Schlichtheit in der Stimme und entfesseltem, dabei traumhaft präzisem tänzerischem Körperspiel. Am Ende steht Hamlet vor der Thronbesteigung, entzieht sich ihr nicht, setzt aber vorher die Narrenkappe auf. Und die ist nicht mehr rot, wie von alters her, sondern schwarz. Mühle zu.