Foto: DIE LABORANTIN, hier mit David M. Campling, Verena Maria Bauer und Marlene Hoffmann. © Martin Kaufhold
Text:Florian Welle, am 15. Mai 2021
Einer der markantesten Sätze in Kristo Šagors preisgekröntem Kinder- und Jugendstück „Patricks Trick“ kommt von der Gemüsefrau: „Man ist nicht behindert, man wird behindert.“ Es ist der Blick von außen, der Menschen mit Handicap das Etikett „anders“ oder gar „unnormal“ anheftet und sie damit stigmatisiert. Aber was heißt eigentlich „unnormal“? Auf diese Frage findet Patricks Lehrerin eine treffende, nachdenklich stimmende Antwort: „Vor allem finde ich vielleicht Sachen normal, die du unnormal findest. Und umgekehrt auch.“ Während „Patricks Trick“ zwar nicht ausschließlich, aber auch den Umgang der Gesellschaft mit Behinderungen in den Fokus rückt, ist das Erwachsenstück „Die Laborantin“ von Ella Road schon einen entscheidenden Schritt weiter.
Das Debüt der Londoner Dramatikerin, das 2018 am Hampstead Theatre uraufgeführt wurde, spielt in einer nicht näher beschriebenen Zukunft, in der die Gesellschaft aus zwei Klassen besteht: sogenannten High- und Lowratern. Grundlage für die Zugehörigkeit ist die Güte der Blutwerte auf einer Rating-Skala von eins bis zehn. Wessen Werte nicht auf mögliche spätere Erkrankungen von Alzheimer über Diabetes bis Erbanomalien hindeuten, ist gesellschaftlich anerkannt, bekommt gut bezahlte Jobs, soll untereinander heiraten. Der genoptimierte Mensch ist alles, was zählt, Zufälle sind bei Road nahezu ausgeschlossen. Eine Dystopie, wie sie jüngst auch in dem Roman „Klara und die Sonne“ des Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro angedeutet wurde und die so fern nicht mehr zu sein scheint, wenn man an pränatale DNA-Tests, an die Bonusprogramme der Krankenversicherungen oder an die immer beliebter werdenden Fitnessarmbänder denkt. Ganz zu schweigen von Chinas Sozialkredit-System.
Im Vergleich zur Jahrtausendwende, als die ethischen, sozialen und gesundheitspolitischen Herausforderungen der Biotechnologie vor dem Hintergrund von Peter Sloterdijks umstrittener Rede „Regeln für den Menschenpark“ heiß diskutiert wurden, ist es derzeit fast beunruhigend ruhig um das brisante Thema. Das will das Theater Regensburg mit einem ganzen Wochenendprogramm ändern. „Patricks Trick“ und „Die Laborantin“ feierten unter dem Motto „Gen/Ethik“ ihre Online-Premiere. Ergänzt werden sie heute, den 15. Mai, um 16 Uhr, noch um das digitale Diskussionspanel „Genetik und Biopolitik – Über Wissenschaft und Verantwortung“. Neben der Soziologin Katharina Liebsch ist auch Gregor Tureček dabei, der Regisseur von „Die Laborantin“. Alle Videos können noch bis morgen kostenlos über die Theaterwebseite abgerufen werden.
„Patricks Trick“ hat nun schon zum zweiten Mal Premiere. Kurz bevor das Zweipersonenstück im vergangenen Frühjahr auf die Bühne gebracht werden konnte, kam der erste Lockdown, und Regisseur Michael Uhl musste mit seinem Team kurzerhand umdisponieren. Gemeinsam mit den Schauspielern Peter Blum und Michael Zehentner erarbeitete er eine explizit auf das Internet zugeschnittene Inszenierung. Die aktuelle Premiere basiert nun auf der ursprünglichen Inszenierungsidee und wurde von der Bühne abgefilmt. Das Stück selbst ist schnell erzählt: Der elfjährige Patrick belauscht seine Eltern. Dabei erfährt er, dass er einen Bruder bekommen wird. Allerdings wird dieser Trisomie haben, die Eltern sind hin- und hergerissen: Ob er jemals richtig sprechen lernt? Der fantasiebegabte Patrick beginnt, sich mit seinem noch ungeborenen Bruder zu unterhalten. Gemeinsam wollen sie herausfinden, was „Trisomie“ eigentlich ist, und wie er dem Bruder später helfen kann. Dafür nimmt er allen Mut zusammen und holt sich Rat bei einem kroatischen Boxlehrer, einem kauzigen Professor und bei der Gemüsefrau, die selbst ein Handicap hat.
Im vergangenen Jahr waren Peter Blum, der Patrick, und Michael Zehentner, der den ungeborenen Bruder spielt, dank Split-Screen-Technik zusammen auf dem Bildschirm zu erleben. Sie saßen beide, und so beschränkte sich ihr Spiel hauptsächlich auf die Mimik. Angesichts der überschaubaren Handlung funktionierte das wunderbar. Das Ergebnis war spannendes Gesichtstheater (siehe unsere Kritik, Anm. d. Red.). Nun spielt das Bühnenbild mit aufgehängter Doppelhelix unserer DNA direkt auf das Thema an. Ob das junge Zuschauer schon verstehen? Peter Blum und Michael Zehentner, die wieder alltäglich gekleidet sind, können jetzt mit ihrem ganzen Körper Emotionen von Angst bis Wut ausdrücken. Beide überzeugen, aber es ist erstaunlich: Die aus der Not geborene Internetinszenierung war am Ende dichter, berührte einen mehr. Gerade weil sie der Fantasie des Zuschauers Freiräume überließ.
„Man ist nicht behindert, man wird behindert“, heißt es bei „Patricks Trick“. Bei Ella Road hingegen zählt nur noch unsere Hardware, die Gene. Als die schwangere Laborantin Bea erfährt, dass ihr Ehemann Aaron sie von Anfang an über seinen wahren Blutwert angelogen hat und deshalb das lang ersehnte Kind wohl ein Leben zweiter Klasse führen wird, herrscht sie ihn an: „Du bist ein Cocktail aus Dreck!“ Längst jedoch hat zu diesem Zeitpunkt die Lüge die ehedem glückliche Beziehung korrumpiert. Auch Bea ist nämlich kein Unschuldslamm, auch wenn sie von der wandlungsstarken Verena Maria Bauer anfänglich so gespielt wird. Bea hat Aaron verschwiegen, dass sie die Blutwerte von Lowratern gegen Geld manipuliert. Das ist zwar illegal, aber lukrativ. Und Bea, aus einfachen Verhältnissen kommend, aber mit spitzen Blutwerten gesegnet, will in der schönen neuen Welt unbedingt zu den Gewinnern zählen. Aaron ist hingegen noch alte Schule. Er glaubt an die Liebe aus freien Stücken. Ein rauchender und trinkender Lebemann, der von Thomas Weber dementsprechend unangepasst gespielt wird.
Ella Roads Stück, das über weite Strecken wie ein Kammerspiel funktioniert, fragt höchst intelligent nach dem Wert des Lebens. Fragt, was den Menschen zum Menschen macht und in welcher Gesellschaft wir zukünftig leben wollen. Wann ist man glücklich und welche Rolle spielt dabei die Selbstverwirklichung, der Job, das Einkommen? All dies sind keine neuen Fragen, aber sie gewinnen durch die Möglichkeiten der Gentechnik noch einmal an Dynamik und Sprengkraft. Dabei gibt „Die Laborantin“ keine eindimensionalen Antworten. Bea ist auch deshalb Anhängerin des neuen Systems, weil sie sechs Jahre lang zugeschaut hat, wie ihr Bruder „an einer scheiß Erbkrankheit krepiert“ ist. Ähnlich wie in den Stücken von Ferdinand von Schirach muss der Zuschauer auch bei Ella Road zu seiner eigenen Position finden.
Gregor Turečeks Inszenierung zieht einen von Anfang an in Bann und weiß die Spannung bis zum Schluss zu halten. Er bedient gemeinsam mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Christin Schumann sowie Julia Novacek, die für die zwischen den Spielszenen eingestreuten bissig-ironischen Videosequenzen zuständig ist, keine landläufigen Zukunftsvorstellungen. Nein, hier schaut alles mehr oder weniger so aus wie bei uns heute und ist genau deshalb so bedrückend. Nur die KIs sind etwas weiterentwickelt. Nur die Gentechnik wartet schon mit mehr Heilsversprechen auf. Nur die Umweltzerstörung ist noch weiter vorangeschritten. Und so gehört es zu den gelungensten Einfällen, wie aus den sterilen, weißen Fliesen der nur mit wenigen Requisiten ausgestatteten Bühne Pflanzen wachsen. Soll damit angedeutet werden, dass sich die Natur ihr Terrain langsam aber stetig zurückerobern wird? Oder sind wir nur Zeuge ihres letzten Aufbäumens im Zeitalter des Anthropozäns, in dem der Mensch nicht einmal mehr vor dem Umbau seiner eigenen Spezies zurückschreckt?