Foto: Ein Held fordert die Götter und das Schicksal heraus: Christopher Maltman als Œdipe © Monika Rittershaus
Text:Detlef Brandenburg, am 12. August 2019
Achim Freyer ist der große, alte, weise und dabei doch jung, schelmisch und listig gebliebene Mythologe der Opernbühne. Wie die griechische Mythologie, so ist auch seine Symbolwelt eine Art Spiegelbild des kollektiven Seelenlebens. In den Jahrzehnten seines Schaffens als Bühnenbildner, Regisseur und Bildender Künstler hat Freyer einen ganz eigenen Kosmos von Bildern, Figuren, Archetypen und Chiffren geschaffen, die er bei jeder neuen Produktion wieder neu arrangiert und erweitert. Es gibt Menschen, Kritiker zumal, die diese Variation des Ähnlichen stört, weil sie sie für oberflächlich halten. Und ja: Es kommt vor, dass sich ein Werk diesem Kosmos nicht erschließt. Dann bleibt die Inszenierung oberflächlich: märchenbunt, aber dekorativ. Wenn aber Werk und szenische Bildwelt miteinander in Interferenz geraten, dann gelingen Achim Freyer wunderbare Abende: Reisen durch rätselhafte Bildwelten, die sich dem Zuschauer nie völlig offenbaren, die aber nachwirken und zu langem Nachdenken anregen. Ein solcher Abend war Freyers Inszenierung von George Enescus „Œdipe“ bei den Salzburger Festspielen.
Dass dieses Werk ihm entgegenkommt, ist kaum verwunderlich. Enescu, rumänischer Komponist mit internationaler Vita geboren 1881 in Liveni Vîrnav, machte von Paris aus als Violin-Virtuose, Dirigent und Musik-Organisator eine durchaus auch mondäne Karriere. Doch diese Oper, komponiert auf ein französischsprachiges Libretto des Schriftstellers Edmond Fleg, ist ganz und gar keine „Virtuosenmusik“, wie man sie vielleicht von Paganini oder Chopin kennt. Von der Initialzündung zur Komposition – Enescus erlebte eine Aufführung von Sophokles’ „König Ödipus“ an der Pariser Comédie-Française – bis zur Uraufführung 1936 vergingen ganze 26 Jahre, in denen der Komponist, immer wieder unterbrochen durch andere Projekte und einige Missgeschicke, einen hochkomplexen Orchestersatz schuf, den der große Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus aus guten Gründen als „symphonisch“ bezeichnete. Er spannt ein schier unübersehbar komplexes Geflecht von Ausdrucksfloskeln, Klanggestalten, Intervall- und Akkordfolgen aus, die eine ähnliche Funktion wie Wagners sogenannte „Leitmotive“ haben, nur dass sie wesentlich weniger prägnant hervortreten und viel komplizierter vernetzt sind. Gerade in diesem subkutan spürbaren, aber immer auch rätselhaften Verweisungszusammenhang findet Freyers ganz ähnlich organisierter Bilderkosmos einen idealen strukturellen Anknüpfungspunkt.
Der inhaltliche Anknüpfungspunkt liegt auf der Hand, denn Fleg und Enescu erzählen ja von Ödipus, dem Mythos vom vielleicht ersten Menschen, der sein Schicksal selbst in die Hand nehmen wollte. Als Vorlage dient dabei die komplette Ödipus-Überlieferung von der Geburt am Hofe des Laïos zu Theben (1. Akt) über das Exil bei Polybos und Merope in Korinth (2. Akt) bis hin zu den Geschehnissen von Sophokles’ „König Ödipus“-Drama (3. Akt) und seines „Ödipus auf Kolonnos“ mit der Verklärung des Titelhelden. Ungewöhnlich ist dabei die dramatische Struktur dieser vier Akte – oder genauer: Verwunderlich ist das weitgehende Fehlen einer solchen, denn es gibt kaum unmittelbare Interaktionen der Figuren. Entweder zeigt das Werk religiöse Riten und höfische Feste, oder aber, und vor allem: Es stellt die singende Selbstreflexionen des Titelhelden in den Mittelpunkt, der alle Nebenfiguren um ein Vielfaches überragt – schon durch die schiere Länge seiner Partie.
Freyers Interpretationsansatz auf der Riesenbühne der Felsenreitschule – einer typischen Freyer-Bühne, wie mit Kreidezeichnungen überzogen, bevölkert von Figuren, Fabelwesen und rätselhaften Objekten –, ist dabei durchaus verblüffend. Sind wir heute, von Sophokles ausgehend, geneigt, in dem vom Schicksal geschlagenen König den ersten Helden zu sehen, so zeigt Freyer uns, ganz im Gegenteil: den letzten Helden und damit die Geburt des modernen Menschen. Bei der Geburtsfeier am Hof des Laïos wird ein speckiges Monsterbaby als Prinz willkommen geheißen, das sich wie in Verpuppungswehen windet, sich aber bald schon auf die Füße emporringt und mit Kampfgesten in die Welt hinausgreift. Als Laïos von Tirésias die fatale Prophezeiung hört, verletzt er den Kleinen am Fuß. Fortan wird der mit einem Klumpfuß durch die Welt humpeln, entsprechend seinem Namen („Schwellfuß“)
In Korinth aber ist er bereits zu einem furchteinflößenden Muskelprotz herangereift, fest entschlossen, dem von Apoll prophezeiten Schicksal zu trotzen. Dass er dieses genau dadurch erfüllt, ist die Pointe des Sophokles-Dramas. Am Ende aber, nach der Blendung und dem Herumirren in der Welt mit blutroten Bändern unter den Augen, wird dieser Held seine Endlichkeit anerkennen. Er weiß jetzt, dass der Mensch das Schicksal weder überblicken noch gar bezwingen kann und nimmt diese seine Unvollkommenheit an. Damit ist er in der Selbsterkenntnis wesentlich weiter gekommen als Donald Trump und andere politische Großmäuler unserer Tage.
Freyer erzählt all das wunderbar entspannt, ohne jeden aktualisierenden Fingerzeig, daür aber mit Comic-artiger Verspieltheit und verschmitzt-saloppen Bildsymbolen. Er zeigt eher ein Mysterienspiel als ein wirkliches Drama, mit schönen ironischen Überzeichnungen und klugen Vor- und Rückverweisen. Die teils verhüllten Arkaden der Felsenreitschule schaffen ein archaisches Ambiente, wir erleben eine Phantasmagorie der Rätselgestalten, die aus der Finsternis des nicht Geheuren unversehens auftauchen und dort auch wieder verschwinden. Längst nicht alles erschließt sich zwingend, ein paar Längen gibt es auch. Aber aufs Ganze ist das ein starker Abend!
Dies auch dank dem grandiosen Dirigenten Ingo Metzmacher. Die Akustik der Felsenreitschule hat ja gewisse Tücken, in dem steinernen Halbrund kann’s ganz schön „knallen“. Valery Gergievs Donnertaten sind da in bester (oder auch schlechtester) Erinnerung. Metzmacher dreht natürlich auch manchmal auf, denn das braucht diese Musik beizeiten. Da sitzt ein Riesenorchester im Graben, mit viel Schlagwerk und etlichen Zusatzinstrumenten, eine Singende Säge ist auch dabei. Doch Metzmacher gelingt es auf geradezu wunderbare Weise, das Klangbild transparent, vielschichtig und plastisch zu halten. Das hat zur Folge, dass man den „symphonischen“ Prozess auch dann gut nachvollzieht, wenn man die Motivik noch nicht bis in Letzte durchbuchstabiert hat. So gelingt eine „Klangrede“ von eigener Art.
Vokal ist dies der Abend des riesigen Chores und des Ödipus-Sängers Christopher Maltmann, der Partie enorm markant, „schwarz“ und kraftvoll, aber auch klar konturiert über die Rampe bringt. Vielleicht hätte sein Held im Schlussakt, Œdipes Ende, ein bisschen mehr balsamische Kantabile-Wärme haben können, aber trotzdem: Welch eine gewaltige Interpretationsleistung! Im von Huw Rhys James einstudierten Chor gab es bei der Premiere ein paar kleinere Wackeleien, sonst aber ein großes, vielschichtig profiliertes Gelingen. Die anderen Figuren sind durchweg vergleichsweise kleine Partien, die meist exzellent besetzt wurden. Im Gedächtnis blieben mir Michael Colvins Laïos, Brian Mulligans Créon, Vincent Ordonneaus Berger und Eve-Maude Hubeaux’ Sphinx. Und es war ein Erlebnis, als Tirésias noch einmal den großen John Tomlinson zu erleben, Bayreuths legendärer Wotan früherer Jahre, der dem blinden Seher eine bannend markante Aura jenseits allen vokalen Wohlklangs mitgab. Begeisterter Beifall, kaum Buhs fürs Regieteam