Foto: Setting aus "Leonce und Lena", u.a. mit Christoph Müller als Valerio © Minz & Kunst Photography
Text:Manfred Jahnke, am 3. Oktober 2020
Sich einmal selbst auf den Kopf spucken können. Entweder in der selbstbezogenen Melancholie verschwinden oder politisch aktiv werden? Wenn man aber irrender Königssohn ist, welche Möglichkeit hat man, um einen Ausweg aus seiner Langeweile zu finden? Was will Schauspielerin Julia Schulze erreichen, die Texte aus Büchners „Hessischem Landboten“ und Briefen einliest? „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, die berühmte Parole wird in der Wiederholung rhythmisch grandios immer neu zerlegt – und erreicht Leonce doch nicht, der allein vor sich hin flippt und nicht weiß, ob er in seiner vermeintlichen Einsamkeit lieben kann. Der Selbstmord aber bleibt ihm verweigert, wenn er ihn auch versucht.
Nur selten kann man Produktionen im Theater sehen, in denen sich die Zeitgeschichte ihrer Entstehung deutlich widerspiegelt, wie bei der Produktion von Büchners „Leonce und Lena“ am Freiburger Theater am Marienbad. Das Team um Regisseur Sascha Flocken begann die Proben kurz vor dem Lockdown, musste dann abbrechen und nach neuen Probenformen suchen. Man probierte über Internet einzeln. Konsequenterweise nahm nun das Video auch in der Inszenierung größeres Gewicht ein. Nachdem wieder Proben im Theater möglich wurden, vermischten sich die Videoformen und das Spiel auf der Bühne. So wechseln nun die Darsteller beständig zwischen diesen Medien. Das beherrscht hervorragend etwa Daniela Mohr, die den König Peter als glasklare Studie eines abgehobenen Herrschers eines Duodezfürstentums anlegt, der sich müde zurückziehen möchte. Um dann bei den Liveauftritten mit einer prägnanten tänzerischen Choreografie eine Vitalität vorzuführen, die zumal in der direkten Kommunikation mit dem Publikum deutlich spüren lässt, da möchte einer endlich aus seiner politischen Verantwortung entlassen werden, um in Ruhe seinen Kant zu studieren.
Wie Flocken den König Peter mit einer Frau besetzt – und dabei alle männlichen Zuschreibungen des Textes beibehält –, so besetzt er nun auch Leonce mit einer Frau und Lena mit einem Mann, so deutlich herauskehrend, dass, wo Menschen sich in privaten Geschichten aufreiben, Politik ihnen egal ist, auch das Geschlecht gleichgültig bleibt. Nadine Werner als Leonce spielt diese Rolle sehr gegenwärtig als gelangweilten snobistischen jungen Mann, der keinen Bock auf Liebe und auch nicht auf Macht hat. Ein Vertreter einer Generation, die darunter leidet, dass alles schon einmal gewesen ist: Die ganze Welt ist ein Ekelerlebnis. Dazu passt es gut, dass die Begegnung mit Rosetta (Julia Schulze) per Video stattfindet: er live, sie im Video. Solange Werner ihre Rolle im Umfeld des Königshofs von Popo ausspielen kann, ist sie sehr präsent. Merkwürdigerweise aber verliert sie diese in der Begegnung mit der Lena des Benedikt Thönes, der in dieser Rolle nur wenig Kontur gewinnt. Und die Gouvernante der Lena wiederum agiert allein im Video.
Während Leonce in dieser Inszenierung von Flocken zum Prototypen eines gelangweilten, alles schon wissenden Jugendlichen ohne Zukunftsutopien mutiert, wird Christoph Müller als Valerio zur komödiantischen Kunstfigur, zum lebenserfahrenen Stromer, der sich augenzwinkernd gerne selbst inszeniert. Mit seinen Bonmots, in denen zugleich seine Lebensgeschichte eingeschrieben ist, und seiner Lebensweisheit wird er quasi zum ruhenden Pol des Spiels, zu dessen heimlichen Regisseur. Das macht Müller grandios. Seine Pointen sind genau gesetzt und er bleibt dabei stets ein genauer Beobachter der Szene. Er steckt in einem knallig-bunten modischen Kostüm (Ausstattung: Jens Dreske) wie alle anderen Darsteller auch, mit Ausnahme von Julia Schulze in ihrer Rolle als Büchners revolutionärem Gewissen.
Die Spieler agieren in einem szenischen Raum, der mit seinen unterschiedlich hohen, silbern glänzenden Podesten und einem Glitzervorhang an der Rückwand der Bühne an das Ambiente einer Showbühne erinnert. Zwei transparente Tücher, ein kleines vorne rechts und ein großes in der Mitte links, werden zu Projektionsflächen, bei denen die Videobilder sich auch hinter diesen Tüchern mehrfach brechen, was der Ästhetik dieser Inszenierung einen ganz eigenen Reiz gibt. Viel farbiges Licht unterstreicht dies noch. Die Musik von Marie-Christin Sommer hört genau in den Rhythmus der Sprache von Büchner hinein, gibt den Spielern die Tempi vor und wirkt sehr sinnlich. Diese Musik unterstreicht wie das Bühnenbild von Dreske, dass hier Leonce und Lena in einer Kunstwelt agieren, gleichsam in einer bunt-schillernden Luftblase, auch, wenn am Ende der Prinz die Nachfolge seines Vaters antreten muss und damit die „italienische Utopie“ eines Lebens in Müßiggang zerplatzt.